Fabelverzeichnis

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Buch 3
 
Das Mütterchen an der Flasche
Der Panther und die Hirten
Aesopus und der Bauer
Der Fleischer und der Affe
Aesop und der Mutwillige
Die Fliege und der Maulesel
Der Wolf und der Hund
Schwester und Bruder
Sokrates an die Freunde
Der Dichter über Glauben und Nicht-Glauben
Ein Eunuch zu einem widerlichen Kerl
Das Huhn und der Edelstein
Die Bienen und die Hummeln am Richterstuhl der...
Über das Spiel und den Ernst
Der Hund und das Lamm
Das Heimchen und die Eule
Die Bäume unter dem Schutz der Götter
Der Pfau zur Juno über seine Stimme
Aesop antwortet einem Schwätzer
Schlußrede

 

1.
Das Mütterchen an der Flasche

Ein altes Mütterchen sah eine leere Flasche
Falerna Weins mit einer edlen Aufschrift liegen,
Die einen schönen Wohlgeruch umher verbreitete.
Begierig sog sie ihn in vollen Zügen ein
Und rief: »O süßer Duft! Wie schönen Stoff mußt du
Vorher enthalten haben, da dein Rest so schön!«

Worauf sich dies bezieht, wird sagen, der mich kennt.

2.
Der Panther und die Hirten

Die Menschen, die von uns verachtet worden sind,
Die pflegen Gleiches stets mit Gleichem zu bezahlen.

In einen Graben fiel ein Panther unversehens.
Dies sahen Bauern. Manche warfen ihn mit Knitteln
Und andere mit Steinen, wen'ge fühlten Mitleid,
Da ihm ja doch der Tod gewiß, wenn ihn auch niemand
Verletzt'; sie gaben Brot, damit er's Leben friste.
Die Nacht bricht an, und sorglos gehen sie nach Haus,
Den Glauben hegend, morgens eine Leich' zu finden.
Der Panther doch erholte sich gar bald vom Falle,
Befreiet sich mit schnellem Sprunge aus der Grube
Und eilet in gestrecktem Lauf zu seiner Höhle.
Nach wenig Tagen bricht er sehr ergrimmt hervor,
Zerreißt die Herde, und selbst Hirten tötet er;
Und alles rings verwüstend, wütet er ihm Zorn.
Nun zitterten auch, welche einst das Tier geschont,
Und alles gern verlierend, bitten sie ums Leben.
Doch jener spricht: »Ich weiß, wer mich mit Steinen warf,
Wer Brot mir gab. Ihr habt nicht meine Wut zu fürchten.
Nur gegen jene wend ich mich, die mich verletzten.«

3.
Aesopus und der Bauer

Man sagt gemeinhin, ein erfahrener Mann treffe das
Richtige eher als ein Wahrsager; ein Grund dafür wird
Aber nicht angeführt, und der wird nun durch meine
Fabel zum ersten Mal bekannt werden.
Einem Mann, der eine Herde hatte, gebaren die Schafe
Lämmer mit Menschenköpfen. Durch das Vorzeichen
Erschreckt und bekümmert, geht dieser eilends zu den
Wahrsagern. Der eine verkündet, das Zeichen beziehe
Sich auf das Leben des Herrn, und man müsse die
Gefahr durch ein Opfer abwenden. Der andere
Behauptete, seine Frau breche die Ehe, und es würden
Untergeschobene Kinder angedeutet. Dieses Omen aber
Könne man durch ein größeres Opfer abwenden. Kurz,
Alle hatten verschiedene Ansichten und erhöhten die
Sorge des Mannes durch noch größere Angst.
Aesopus der gewitzte Alte, den die Natur niemals
Täuschen konnte, stand dabei und sagte: »Bauer, wenn
Du das böse Vorzeichen abwenden willst, dann gib
Deinen Hirten Gattinnen!«

4.
Der Fleischer und der Affe

Ein Mann erblickte einst im Laden eines Fleischers
Bei schöner, leckrer Ware einen Affen hängen.
Er rief: »Wie schmeckst denn du?« Der Fleischer sagte scherzend:
»Du magst fürwahr vom Kopfe auf das Ganze schließen.«

Dies Wort ist, glaube ich, mehr lächerlich als wahr:
Denn gar zu oft hab ich die Schönen schlecht gefunden,
Doch unter Häßlichen sehr Biedere erkannt.

5.
Aesop und der Mutwillige

Ein günstiger Erfolg ruft viele zum Verderben.

Ein Wicht hatt' auf Aesop einst einen Stein geworfen.
»Brav!« sagte dieser ihm und gab ihm eine As.
Drauf rief er ihm noch nach: »Führwahr, ich hab nicht mehr,
Doch werde ich dir zeigen, wo du mehr erhälst.
Sieh dort den reichen, mächt'gen Mann. Wenn du auch diesen
Mit einem Stein wirfst, bekommst du großen Lohn.«
Und jener, überzeugt, befolgte diese Worte;
Doch ward er in der Hoffnung auf Gewinn betrogen;
Ergriffen nämlich musste er am Kreuze hängen.

6.
Die Fliege und der Maulesel

Auf einer Deichsel saß die Flieg' und schalt den Esel:
»Was zögerst du? Willst du wohl schneller vorwärts schreiten?
Sonst werd' ich deinen Hals mit meinem Stachel stechen.«
Das Maultier sprach: »Du zwingst mich nicht zum schnellern Gehn,
Nur fürcht ich jenen, der dort auf dem Bocke sitzt
Und der durch eine Geißel mein Gespann regiert
Und durch den Zügel mir das Maul zusammenpreßt.
Drum also weg mit deinen dummen Prahlereien,
Denn sehr wohl weiß ich, wann ich gehen muß, wann traben.«

Infolge dieser Fabel kann man den verlachen,
Der trotz der eignen Ohnmacht andern eitel droht.

7.
Der Wolf und der Hund

Wie süß die Freiheit ist, will ich jetzt kurz berichten.

Bei einem allzu fetten Hund kam einst durch Zufall
Ein magrer Wolf vorbei; sie grüßten gegenseitig
Und blieben stehn: »Wovon bist du so wohlgenährt?
Von welcher Speise hast du solchen Körperumfang?
Ich, der ich doch weit tapfrer bin, muß Hungers sterben.«
Treuherzig sprach der Hund: »Auch du kannst dies erreichen,
Wenn du es über dich vermagst, gleich mir zu dienen.«
»Wie das?« fragt jener. — »Wenn du an der Schwelle wachest
Und deines Herren Haus bei Nacht vor Dieben schützest.«
»Dazu bin ich bereit; jetzt muß ich Schnee und Regen
Ertragen, in dem Wald mein schweres Dasein fristend.
Viel besser ist's für mich, im sichren Haus zu leben
Und mich in süßer Ruh' an schöner Speis' zu laben.«
»So komm denn mit!« Im gehen aber sah der Wolf
Den Hals des Hunds, von einer Kette ganz zerschunden.
»Woher ist dies, mein Freund?« — »Ist nichts.« — »Oh, sag mir's doch.«
»Weil ich für bissig gelt, lieg ich des Tags am Strick,
Daß ich bei Tagslicht ruhe und zur Nachtzeit wache.
Doch wenn ich los bin, schwärm ich hin, wo's mir beliebt.
Von allen Seiten bringt man Brot; von seinem Tische
Gibt mir der Herr die Knochen und die Dienerschaft
Und manche andre werfen mir die Zukost zu.
So wird mein Bauch ohn' jede Mühe angefüllt.«
»Wohlan, ist dir's gestattet, überall zu gehen?«
»Bei weitem nicht.« — »Genieße, was du lobst, o Hund,
Nicht König möchte' ich sein auf Kosten meiner Freiheit.«

8.
Schwester und Bruder

Gedenke dieser Lehr' und prüfe oft dein Herz.

Ein Mann hatt' eine Tochter, die sehr häßlich war,
Und einen Sohn von schönem Bau und edlem Antlitz.
Im frohen Kinderspiel erblickten sich die Kinder,
Wie's zu geschehen pflegt, im Spiegel ihrer Mutter.
Es rühmet sich der Knab', das Mädchen zürnt, und nicht
Kann sie die Scherze des sich Rühmenden ertragen,
Indem sie glaubt, daß er sie nur beschimpfen will.
Um sich an ihm zu rächen, eilt sie flugs zum Vater
Und klaget mit Gehässigkeit den Bruder an,
Dass er, der spätre Mann, ein Fraungerät berührt.
Der Vater schloß sie, beide küssend, in die Arme,
Und, seine Zärtlichkeiten zwischen ihnen teilend,
Begann er: »Sehet euch doch täglich in dem Spiegel,
Damit du nicht durch Schlechtigkeit die Schönheit schändest
Und du die Häßlichkeit durch Herzensgüte ausgleichst.«

9.
Sokrates an die Freunde

Der Name "Freund" ist oft, doch selten treue Freundschaft.

Als Sokrates ein kleines Haus gebauet hatte —
Ich möcht' für dessen Ruhm wohl seinen Tod erdulden,
Und gern ertrüg' ich auch den Haß, den er erlitt,
Wenn ich gleich ihm als Asche freigesprochen würde, —
Fragt' einer aus dem Volk, wie's zu geschehen pflegt:
»Warum das Haus so eng, o großer Mann?« Es sprach
Der Weise: »Daß ich's doch mit wahren Freunden fülle.«

10.
Der Dichter über Glauben und Nichtglauben

Es ist gefährlich zu glauben, aber auch gefährlich, nicht zu glauben.
Für beide Sätze will ich kurz ein Beispiel vorsetzen.

Hippolytos starb, weil man seiner Stiefmutter glaubte;
weil man Kassandra nicht glaubte, fiel Troja. Daher muß man
sorgsam die Wahrheit erforschen, bevor eine falsche Meinung
ein törichtes Urteil fällt. Damit ich aber nicht die Erzeugnisse
eines mythengläubigen Altertums anpreise, will ich dir erzählen,
was zu meiner eigenen Zeit geschah.

Ein Mann liebte seine Frau, und als er seinem Sohn schon
die Männertoga bereitete, wurde er von seinem Freigelassenen
beiseite geführt (dieser hoffte, er selbst werde als nächster Erbe eingesetzt).
Der Verleumder log viel über den Jungen zusammen, mehr noch über
Die Schandtaten der keuschen Frau, und schließlich fügte er hinzu —
denn er wußte, daß dies den Liebenden am meisten schmerzen würde, —
es komme häufig ein Ehebrecher, und der Ruf des Hauses werde
durch schändlichen Ehebruch befleckt. Der Mann war über die erdichtete
Beschuldigung seiner Frau erbittert, tat so, als ob er auf sein Landhaus
gehen wolle, versteckte sich aber im Städtchen. Nachts drang er plötzlich
ins Haus und ging geradewegs zum Gemach seiner Frau, wo diese auch
ihren Sohn schlafen ließ, weil sie den jungen Mann sorgsam überwachen wollte.
Während man Licht sucht und das Gesinde zusammenläuft, geht der Mann,
von rasender Wut übermannt, zum Bett und tappt im Finstern
nach einen Kopf. Als er kurze Haare spürt, stößt er das Schwert in die
Brust (des Liegenden) und denkt an nichts als an Rache für seinen Schmerz.
Als eine Laterne gebracht wird, sieht er den Sohn und seine keusche Frau
neben diesem schlafen; diese hatte, vom ersten Schlaf trunken,
nichts bemerkt. Der Mann nahm die Strafe seiner Tat auf sich und stürzte
sich in das Schwert, das er leichtgläubig gezückt hatte.
Ankläger forderten die Frau vor Gericht und zerrten sie nach Rom zum
Hundertmännergericht. Obschon sie schuldlos war, unterlag sie böswilliger
Verdächtigung, weil sie die Güter bekam. Die Verteidiger stehen mutig da und
schützen die unschuldige Frau.

Da baten die Richter den vergöttlichten Augustus, er möge ihnen helfen,
ihren Richtereid zu erfüllen, weil sie durch den verwickelten Fall verwirrt seien.
Als der Caesar das Dunkel der Verleumdung zerstreut und den Quell
zuverlässiger Wahrheit gefunden hatte, entschied er: »Der Freigelassene als
der Urheber des Unheils soll bestraft werden; ich glaube nämlich,
daß man die Frau, die Sohn und Mann zugleich verlor, eher bemitleiden als
verurteilen soll. Wenn nämlich der Hausherr die hinterbrachten Vorwürfe
überprüft und die Lüge sorgsam untersucht hätte, dann hätte er nicht
durch ein todbringendes Vergehen sein Haus von Grund auf zerstört.«

Das Ohr soll nichts verschmähen, soll aber auch nicht sogleich glauben; auch
jene nämlich, von denen man es am wenigsten annehmen möchte, begehen
Sünden, und wer nichts anstellt, wird durch trügerische Anklage angegriffen.
Dieses Beispiel kann auch einfachere Gemüter davor warnen, etwas nach der
Meinung eines anderen zu beurteilen. Das Streben der Menschen geht
nämlich in verschiedene Richtungen und schließt sich entweder der eigenen
Vorliebe oder der Abneigung an. Der nur ist dir wirklich bekannt,
den du persönlich kennengelernt hast.
Diesen Gegenstand habe ich deshalb breiter ausgeführt, weil ich bei
gewissen Leuten durch allzu große Kürze Anstoß erregte.

11.
Ein Eunuch zu einem widerlichen Kerl

Ein Eunuch stritt sich mit einem widerlichen Kerl, der unanständige
Bemerkungen machte, freche Streitreden führte und ihm obendrein
den Verlust des Körperteils vorwarf. »Zugegeben«, sagte der Eunuch,
»es ist das einzige, wo es bei mir stärker fehlt, daß ich das Zeugnis
[=Zeuge-Teile] der Integrität nicht besitze. Aber weshalb, du Tor,
wirfst du mir vor, was Schuld Fortunas ist? Das ist für einen Menschen
eine Schande, was er zu erdulden verdient hat.«

12.
Das Huhn und der Edelstein

Ein junges Huhn fand einst in einem Düngerhaufen,
Wo es sich Speise suchte, einen Edelstein.
Es sprach: »Welch großer Schatz, und liegt an solchem Orte!
Wenn dich ein perlenkund'ger Mann gesehen
Hätte, würd' sich führwahr bei dir der alte Glanz erneun.
Doch ich dich aber fand, dem Speise lieber wäre,
Kann weder dir noch mir der kleinste Nutzen werden.«

Dies gilt für die, die meine Fabeln nicht verstehen.

13.
Die Bienen und die Hummeln am Richterstuhl der Wespe

Auf einer Eiche hatten Bienen ihre Zellen.
Die trägen Hummeln sagten, daß es ihre wären.
Der Streit kam vor Gericht, die Wespe sollt' entscheiden.
Da sie die beiden Klägerinnen sehr wohl kannte,
Legt' sie denselben klüglich die Bestimmung vor:
»Es sind die Körper ähnlich und die Farb' ist gleich,
Drum ist es ungewiß, ob ich werd recht entscheiden.
Damit ich aber mein Gewissen nicht beschwere,
Nehmt diese Körb' und füllt die Zellen mit eurem Honig,
Daß mich des Honigs Süße und der Zellen Bildung
Belehret, wer die streitige Behausung baute.«
Die Hummeln weigern sich, den Bienen ist es recht.
Drauf fällt die Wespe als die Richterin den Spruch:
»Ich weiß jetzt, wer die Zellen baute und wer nicht,
Drum gebe ich dem Bienenvolk das Gut zurück.«

Ich hätte diese kleine Fabel nicht geschrieben,
Wenn nicht die Hummeln ihr gegebnes Wort gebrochen.

14.
Über das Spiel und den Ernst

Als ein Athener den Aesop im Knabenchor
Um Nüsse spielen sah, blieb er betroffen stehn
Und lachte über ihn als einen Toren. Der Greis,
Selbst mehr ein Spötter als ein zu Verspottender,
Sah es und legte einen abgespannten Bogen
Im Wege hin und fragte: »Was bedeutet mein Tun,
Du weiser Mann?« Es lief das Volk zusammen. Lange
Bemüht' sich jener, doch die Antwort fand er nicht.
Zuletzt ergibt er sich. Drauf sagt unser Weiser:
»Gar bald zerbricht der Bogen, der für stets gespannt,
Läßt du ihn aber schlaff, dient er nach deinem Willen.«

So muß man auch dem Geist zuweilen Ruhe gönnen,
Daß er zu neuer Wirksamkeit sich Kraft erwirbt.

15.
Der Hund und das Lamm

Zu einem Lamm, das zwischen Ziegen blökte, sprach
Der Hund: »Du Tor, du irrst, die Mutter ist nicht hier,«
Und zeigte ihm die Schafe, welche ferne grasten.
»Ich suche jene nicht, die, von dem Bocke schwanger,
Die unbekannte Bürde ihre Monde trägt
Und endlich dann die reife Last zu Boden wirft.
Ich suche die, die mich ernährt mit ihrem Euter
Und ihren Jungen Milch entzieht, sie mir zu geben.«
»Doch ist dir jene lieber, die dich zeugte?« — »Nein,
Wie wußte sie, ob schwarz, ob weiß ich würd' geboren.
Gesetzt dies auch. Die größte Wohltat hat fürwahr
Sie mir erzeigt, daß sie als Männlein mich gebar,
Damit ich jede Stund' den Schlächter kann erwarten.
Wie sollte mir nun jene, die auf die Geburt,
Nicht den geringsten Einfluß hatte, lieber sein
Als diese, welche mitleidsvoll mich an sich nahm
Und mir aus freiem Antrieb Wohltaten erzeigte?
Die Herzensgüte schafft die Eltern, nicht Geburt.«

Es wird gezeigt, daß alle Menschen dem Gesetze
Entgegen sind, sich nur durch Wohltun fangen lassen.

16.
Das Heimchen und die Eule

Wer sich nicht zur Bequemlichkeit bequemen will,
Muß meist den Übermut durch schwere Strafe büßen.

Gar heftig zirpte einst das Heimchen vor der Eule,
Die sich den Lebensunterhalt im Finstern sucht,
Bei Tag jedoch in ihrem Nest zu schlafen pflegt.
Es ward gebeten, still zu sein. Bedeutend ärger
Begann's zu zirpen. Und die Eule bat aufs neue.
Das Zirpen nahm noch zu. Als nun die Eule sah,
Daß keine Hilfe wär' und jede Bitt' vergebens,
Macht' sie sich listig an die Schwätzerin und sagte:
»Weil mich in meinem Schlafe deine Lieder stören,
Die man für des Apolls Gesänge halten möchte,
Erfreu ich mich am Nektar, den Minerva mir
Vor kurzem gab. Wenn dir's nicht ekelt, komm zu mir.
Laß uns zusammen trinken.« Und das durst'ge Heimchen,
Das auch so gerne seine Stimm' gepriesen sah,
Flog gierig hin. Die Eule kam aus ihrer Höhle
Und stürzte auf das Heimchen zu und würgte es.
So gab es sterbend, was im Leben es verweigert.

17.
Die Bäume unter dem Schutz der Götter

Einst wählten sich die Götter Bäume; welche sie
In ihrem Schutz haben wollten. Jupiter
Gefiel die Eich', die Myrt' der Venus, dem Apoll
Der Lorbeerbaum, die Fichte der Kybele, aber
Dem starken Herkules die majestät'sche Pappel.
Minerva staunte, daß sie Bäume ohne Früchte
Gewählt, und fragte nach dem Grunde. Jupiter
Gab ihr die Antwort: »Daß es nicht den Schein gewinne,
Als ob wir um der Früchte nur die Bäume schützten.« —
»Fürwahr, es soll mir einer sagen, was er will,
Mir sind Oliven wegen ihrer Früchte lieber.«
Drauf antwortet der Götter und der Menschen Vater:
»O Kind, du wirst mit Recht bei allen weise heißen,
Denn wenn es keinen Nutzen bringt, was wir verrichten,
So ist es nichts als eitler Ruhm und Prahlerei.«

Die Fabel lehret, nichts zu tun, was uns nichts nutzt.

18.
Der Pfau zur Juno über seine Stimme

Zur Göttin Juno kam der Pfau in großem Unmut,
Daß ihm nicht der Gesang der Nachtigall verliehen;
Sie wird' von allen Vögeln stets gelobt, gepriesen,
Doch ihn verlache man, sobald er seine Stimme
Vernehmen lasse. Milde tröstete die Göttin:
»Du bist an Schönheit und an Größe überlegen,
Denn deinem Hals entstrahlt ein Glanz wie von Smaragden,
Und dein Schweif, der durch die Menge bunter Federn
Dem Edelsteine gleicht, entfaltest du zum schönsten Rade.«
Es sprach der Pfau: »Wozu mir diese stumme Schönheit,
Wenn ich durch den Gesang besieget werd?«
»Es sind«,
Gab Juno jetzt zur Antwort, »nach den Schicksalssprüchen
Bestimmte Gaben jedem Vogel zugeteilet.
Die Schönheit dir, die Kraft dem Adler, der Gesang
Der kleinen Nachtigall, die Deutungskraft demRaben,
Und aus der Krähe Flug kann man die Zukunftsehen.
Und alle waren mit den Gaben wohl zufrieden.«

O strebe nie darnach, was dir nicht ist gegeben,
Damit dir nicht getäuschte Hoffnung Schmerz bereite.

19.
Aesop antwortet einem Schwätzer

Als eines Herren einz'ger Sklav' Aesopus war,
Erhielt er den Befehl, die Mahlzeit früh zu rüsten.
Er ging nun, Feuer suchend, in die Nachbarhäuser,
Und endlich fand er, wo er seine Lamp' anzündet'.
Da ihm der Umweg aber viel zu lang erschiehn,
Wählt' er einen kürzern Gang und kehrte graden Wegs
Zum Platz zurück. Es rief ein Schwätzer aus dem Volke:
»Aesop, weshalb bei Sonnenschein mit einem Lichte?« —
»Ich suche Menschen!« Sprach's und eilte in sein Haus.

Wenn sich der Störer diese Wort' zu Herzen nahm,
Erfuhr er, daß der Greis ihn nicht als Mensch erkannt,
Da er den Vielbeschäftigten so frech verhöhnte.

[Schlußrede]
Der Dichter

Ich könnte vieles noch berichten, doch ich schweige,
Zuerst, damit ich dir nicht allzu lästig scheine,
Den die Verschiedenheit so vieler Dinge fesselt,
Und ferner, daß ein andrer, der sich will versuchen
An dieser Dichtungsart, noch reichen Stoff behalte.
Wohl ist der Reichtum an dergleichem Stoff so groß,
Daß eh' der Arbeit Künstler fehlen als umgekehrt.
Damit nun meine Kürze ihren Lohn erhält,
So laß, wie du versprochen, deine Stimme hören,
Denn täglich nähert sich das Leben mehr dem Tode.
Fürwahr, je länger du mit deiner Wohltat zögerst,
Um so viel weniger werd ich die Freud' genießen.
Wenn du's sofort ausführst, so freue ich mich länger,
Denn was ich früh erhalte, werd ich lang benutzen.
Jetzt, wo mir noch etwas von Manneskraft geblieben,
Ist Hilf' am Platz; wenn ich vom Alter bin gebeugt,
So wird mir deine Wohltat keine Frucht mehr bringen.
Dann wird mir deine Güte nicht mehr nutzen können.
Der nahe Todesengel fordert den Tribut.
Da du aus freien Stücken gern dem Elend hilfst,
So wär' es töricht, dich durch Bitten zu bewegen.
Der Sünder, der gestand, erlangte oft Verzeihung,
Um wieviel mehr gebühret sie der armen Unschuld.
Oh, spend dein Lob, es haben andre schon gespendet,
Dann werden mir noch viele es nicht vorenthalten.
O gib, daß ich mich für dein Urteil glücklich preise.
Schon überschreite ich das mir gesteckte Ziel,
Doch nur mit Mühe kann der Geist gefesselt werden,
Der hart, obgleich er sich der Unschuld ist bewußt.
Durch frechen Hohn und Übermut der Schurken leidet.
Du fragest, wer sie sind? Du wirst sie noch erkennen.
In meiner Knabenzeit hab ich den Spruch gelesen:
»Gefährlich ist's dem niedern Manne, frei zu sprechen.«
Solang ich leb, werd ich mich dieser Lehr' erinnern.