Drei politische Spruchstrophen, die Walther zwischen 1198 und 1201 verfasste die Reichssprüche oder Reichston.
Die Reichston-Strophen sind politische Äußerungen zu dem um 1200 schwelenden Streit um die Thronfolge zwischen
dem Staufer Philipp von Schwaben und dem Welfen Otto IV.
Quelle:
© Reclam 1994: Walther von der Vogelweide Gesamtausgabe Band 1 Spruchlyrik/ I. Reichston
Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von: ©Günther Schweikle
1. Reichsklage
1198-1201
Ich saz ûf einem steine
dô dahte ich bein mit beine,
dar ûf satzte ich mîn ellenbogen,
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne in ein mîn wange,
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer welte solte leben,
deheinen rât kunde ich mir gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der deheinez niht verdurbe:
diu zwei sint êre und varnde guot,
der ietwederz dem andern schaden tuot,
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolde ich gerne in einen schrîn.
jâ, leider desn mac niht gesîn,
daz guot und weltlich êre
und gotes hulde mêre
in einen schrîn mügen komen.
stîge und wege sint in genomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt ist ûf der strâze,
fride unde reht sint beidiu wunt.
diu driu enhabent geleites niht
diu zwei enwerden ê gesunt.
Ich saß auf einem Stein,
dabei deckte ich Bein mit Bein,
darauf setzte ich meinen Ellbogen,
ich hatte in meine Hand geschmiegt
das Kinn und eine meiner Wangen,
dabei dachte ich sehr eindringlich darüber nach,
wie man auf der Welt leben solle,
keinen Rat konnte ich mir geben,
wie man drei Dinge erwürbe,
von denen keines verdürbe:
zwei davon sind Ehre und bewegliche Habe,
von denen jedwedes dem andern Schaden zufügt,
das dritte ist Gottes Huld,
welche die zwei an Geltung übertrifft.
Diese hätte ich gerne in einem Schrein.
Ja, leider, das kann nicht sein,
daß Gut und weltliche Ehre
und Gottes Huld noch dazu
in einen Schrein kommen können.
Stege und Wege sind ihnen verwehrt:
Untreue lauert im Hinterhalt,
Gewalt herrscht auf der Straße,
Friede und Recht sind beide wund.
Diese drei haben kein freies Geleit,
ehe diese zwei nicht gesund werden.
2. Weltklage
Ich hôrte diu wazzer diezen
und sach die vische fliezen,
ich sach swaz in der welte was,
walt, velt, loub, rôr unde gras,
swaz fliuzet oder fliuget
oder bein zer erde biuget,
daz sach ich unde sage iu daz:
deheinez lebet âne haz.
daz wilt und daz gewürme,
die strîtent starke stürme,
alsô tuont die vogel under in;
wan daz sie habent einen sin:
-si wæren anders ze nihte-
si schaffent guot gerihte,
si setzent künige unde reht
und schaffent hêrren unde kneht.
sô wê dir, tiutschiu zunge,
wie stât dîn ordenunge,
daz nû diu mugge ir künig hât
und daz dîn êre alsô zergât!
bekêrâ dich, bekêre!
die cirkel sint ze hêre,
die armen künige dringent dich:
Phillippe, setze den weisen ûf
und heiz si treten hinder sich.
Ich hörte die Wasser rauschen
und sah die Fische schwimmen,
ich sah alles, was in der Welt war,
Wald, Feld, Laub, Röhricht und Gras,
alles, was schwimmt oder fliegt
oder Beine zur Erde biegt,
das sah ich und ich sag Euch dies:
keines lebt ohne Feindschaft.
Das Wild und die Kriechtiere,
die führen heftige Kämpfe,
ebenso halten es die Vögel untereinander,
nur, daß sie in einem eines Sinnes sind,
-sie wären anders nicht lebensfähig-
sie schaffen gute Regierungen,
sie setzen Könige und Rechtsordnung ein
und unterscheiden Herren und Knechte.
Dagegen - weh Dir, deutsches Volk,
wie steht es um Deine Ordnung,
wo nun die Mücke ihren König hat
und dagegen Deine Ehre so ganz schwindet!
Bekehre Dich endlich, bekehre Dich!
Die Fürsten sind zu Stolz,
die Vasallenkönige bedrängen Dich,
Philipp, setze den Waisen* auf
und heiße sie zurücktreten.
*Hauptedelstein der deutschen Königskrone.
3. Kirchenklage
Ich sach mit mînen ougen
manne unde wîbe tougen,
dâ ich gehôrte und gesach
swaz ieman tet, swaz ieman sprach:
ze Rôme hôrte ich liegen
und zwêne künige triegen.
dâ von huop sich der meiste strît,
der ê wart oder iemer sît,
dô sich begunden zweien
pfaffen unde leien,
dâ was ein nôt vor aller nôt,
lîp und sêle lag da tôt.
die pfaffen striten sêre,
doch wart der leien mêre.
die swert legten si dâ nider,
si griffen an die stôle wider,
si bienen die si wolten
und niht den si solten.
dô stôrte man diu gotes hûs,
dô hôrte ich verre in einer klûs
vil michel ungebære.
dâ weinde ein klôsenære,
er klagete gote siniu leit:
"owê, der bâbest ist ze jung,
hilf, hêrre, dîner kristenheit!"
Ich sah mit meinen Augen
der Männer und Frauen Geheimnisse,
wobei ich in der Tat hörte und sah,
was immer jemand tat, was immer jemand sprach:
in Rom hörte ich lügen
und zwei Könige betrügen.
Dadurch erhob sich der größte Streit,
der jemals war oder fernerhin sein wird,
als sich zu entzweien begannen
Pfaffen und Laien,
da war eine Not über alle Not,
Leib und Seele lagen da tot darnieder.
Die Pfaffen stritten heftig,
doch wurden es der Laien mehr.
Die Schwerter legten sie daraufhin nieder,
sie griffen wieder zu der Stola,
sie bannten diejenigen, die sie wollten,
und nicht denjenigen, den sie sollten.
Darauf störten sie die Gotteshäuser,
darauf hörte ich fern in einer Klause
gar großes Wehklagen.
Da weinte ein *Klausner,
er klagte Gott sein Leid:
"O weh, der Papst ist zu jung,
hilf, Herr, deiner Christenheit!"
*Der wehklagende Klausner erscheint hier erstmals als Walthers Symbolfigur einer ideellen,
rein geistigen Kirche, deren Aufgabe nur das Seelsorgeramt ist.