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Lebensweisheiten
 

Religiöse Sprüche

Walthers erste aufgeführte antiklerikale Strophe ist zugleich eine der schärfsten in der Reihe. Er macht Papst Innozenz III. (1198–1216)
und die Kurie für die bestehenden Unruhen im Reich verantwortlich. Walther lastet ihm grundsätzlich die Verfälschung der Lehre Gottes
und die Missachtung seiner Gebote an.
 


 


Gerbreht
: bezogen auf Gerbert, Erzbischof von Ravenna, den späteren Papst Sylvester II. (999-1003),
der sich durch außergewöhnliche Kenntnisse in Mathematik und Astronomie auszeichnete.
Deshalb kam es später – ab etwa 1100 – zur Legendenbildung und er kam in den Ruf eines Magiers und Teufelbündlers. Mit diesem vergleicht Walther den Papst Innozenz III.


Der Papst verhindert, dass sie den "Schatz im Himmel" erwerben. Nach dem Verständnis Walthers
beraubt er damit Gott um viele Seelen.



Bild:
von Martinus Oppaviensis um 1460

Quelle der Lieder:
© Reclam 1994: Walther von der Vogelweide Gesamtausgabe Band 1 Spruchlyrik/ VI. Unmutston
Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von: ©Günther Schweikle


 

Innozenz und Gerbreht
 

Der stuol ze Rôme ist nû alrerst berihtet rehte
als hie vor bî einem zouberære Gerbrehte,
der selbe gab ze valle niht wan sîn einez leben,
sô hât sich dirre ze valle und alle kristenheit gegeben.
alle zungen suln ze gote schrîen "wafen!"
und ruofen ime, wie lange er welle slâfen.
si wider würkent sîniu werc und felschent sîniu wort.
sîn kamerære stilt im sînen himelhort.
sîn suoner mordet hie und roubet dort,
sîn hirte ist ein wolf worden under sînen schâfen.

 
Der Stuhl zu Rom ist nun erstmals wieder gerade so ausgestattet
wie einstmals mit dem gewissen Zauberer Gerbrecht:
der gab nichts als sein eigenes Leben dem Verderben preis,
dagegen hat dieser sich selbst und die ganze Christenheit dem Verderben preisgegeben.
Alle Zungen sollen zu Gott aufschreien: "Hilfe!"
und ihm zurufen, wie lange er schlafen wolle.
Sie wirken seinen Werken entgegen und fälschen seine Worte.
Sein Kämmerer stiehlt ihm seinen Himmelsschatz,
sein Mittler mordet hier und raubt dort,
sein Hirte ist ein Wolf geworden unter seinen Schafen.

 


Äußerer Anlass dieser und der nachfolgenden Strophe war offenkundig die Kreuzzugsbulle Quia maior von Innozenz III. zu Ostern des Jahres 1213.
Darin wird veranlasst, dass in allen größeren Kirchen Opferstöcke (truncus concavus) aufgestellt und mit ihrer Hilfe die Finanzierung eines für das
Jahr 1217 geplanten Kreuzzugs gesichert werden sollte.
Walther sieht dahinter indes nur einen weiteren Schachzug des Papstes zum missbräuchlichen Geld-und Machterwerb.
Seine Strophen zeigten Wirkung, denn viele ließen sich dadurch an der Kreuzzugsteilnahme oder zumindest von Geldspenden abhalten.

 

Erste Opferstockstrophe
 
Ahî wie kristenlîche nû der bâbest lachet,
swanne er sînen Walhen seit: 'ich hânz alsô gemachet'.
daz er dâ seit, des solt er nie mêr hân gedâht!
er gihet: "ich hân zwêne Allamân under eine krône brâht,
daz si daz rîche sulen stœren unde wasten,
ie darunder wüelen in ir kasten.
ich hân si an mînen stok gemennet, ir guot ist allez mîn,
ir tiutschez silber vert in mînen welschen schrîn,
ir pfaffen ezzent hüener und trinkent wîn
unde lânt die tiutschen vasten!"



 

Ei, wie christlich nun der Papst lacht,
wenn er seinen Welschen sagt: "Ich habe es so gemacht."
Was er da sagt, daran sollte er niemals gedacht haben!
Er verrät: Ich habe *zwei Deutsche unter eine Krone gebracht,
damit sie das Reich verunsichern und verwüsten sollen,
währenddessen wühlen wir in ihren Kasten.
Ich habe sie an meinen Opferstock getrieben, ihr Gut ist alles mein,
ihr deutsches Silber fährt in meinen welschen Schrein.
Ihr Pfaffen, eßt Hühner und trinkt Wein,
und laßt die Deutschen fasten!"

*gemeint ist das Doppelkönigtum Otto IV. und Friedrich II.
 


Walther formuliert wiederholt in dieser zweiten Opferstockstrophe womöglich noch aggresiver die Vorwürfe dem Papst und der Kurie gegenüber:
Der Opferstock wird personifiziert –hêr Stoc- und Walthers höhnisch-ironischen Fragen ausgesetzt.
Als Entstehung der beiden Opferstockstrophen wird die Zeit nach dem allgemeinen Bekanntwerden des Inhalts des päpstlichen Erlasses
in Deutschland, Sommer 1213 angenommen.

 

Zweite Opferstockstrophe
 
Sagent an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet,
daz ir in rîchet und uns Tiutschen ermet unde swendet?
swenne im diu volle mâze kumt ze Laterân,
sô tuot er einen argen list als er ê hât getân:
er seit uns danne wie daz rîche stê verwarren,
unz in erfüllen aber alle pfarren.
ich wæne des silbers wênig kumet ze helfe in gotes lant,
grôzen hort zerteilet selten pfaffen hant.
hêr Stoc, ir sît ûf schaden her gesant,
daz ir ûz tiutschen liuten suochent törinne unde narren.

 
Sagt an, Herr Stock, hat Euch der Papst hergesandt,
damit Ihr ihn reich und uns Deutsche arm macht und auszehrt?
Immer wenn ihm das volle Maß in den Lateran kommt,
so greift er zu einer schlimmen List, wie er früher schon getan hat:
 er sagt uns dann, wie das Reich in Unordnung sei,
bis ihn alle Pfarreien wieder auffüllen.
Ich fürchte, von dem Silber kommt wenig als Hilfe in Gottes Land,
großen Schatz verteilt selten Pfaffenhand.
Herr Stock, Ihr seid zum Schaden hergesandt,
damit Ihr unter deutschen Leuten Törinnen sucht und Narren.

 


Zentrum dieser Strophe ist das Ämterschachern, und die Missachtung, der Gebote Gottes überhaupt, die zu den Lastern des Papstes gehöre,
der hier wiederum als Teufelsbündler und Magier dargestellt wird.

 

Verführte Geistlichkeit
 
Ir bischofe und ir edelen pfaffen, ir sît verleitet,
seht wie iuch der bâbest mit des tiuvels stricken seitet.
saget ir uns daz er sant Peters slüzzel habe,
sô saget war umbe er sîne lêre von den buochen schabe.
daz man gotes gâbe iht koufe oder verkoufe –
daz wart uns verboten bî der toufe.
nû lêretz in sîn swarzez buoch, daz im der hellemôr
hât gegeben und ûz im leset sîniu rôr.
ir Kardinal, ir decket iuwern kôr,
unser alter frône, der stêt under einer übelen troufe.

 
Ihr Bischöfe und Ihr edlen Geistlichen, Ihr seid verführt!
Seht, wie Euch der Papst mit des Teufels Stricken umgarnt!
Sagt Ihr uns, daß er Sankt Peters Schlüssel innehabe –
so sagt, warum er dessen Lehre von den Heiligen Schriften abschabt.
Daß man Gottes Gaben etwa kaufe oder verkaufe –
das wurde uns durch die Taufe verboten.
Nun lehrt ihn dies sein schwarzes Buch, das ihm der Höllenmohr
gegeben hat, und aus ihm liest er seine Streiche.
Ihr Kardinäle, Ihr deckt Euren Chor,
unser Altar des Herrn dagegen, der steht unter einer üblen Traufe.

 


Eine ironisch gefärbte Strophe, die nicht den Papst direkt, sondern diejenigen aufs Korn nimmt, die ihm nachfolgen.
Wer nun der junge Judas und der alte Judas ist, darüber gibt es verschiedene Deutungen. Zumeist wird aber angenommen,
dass mit dem jungen Judas der Papst gemeint ist. Dem gegenüber wird der verräterische Judas aus dem Neuen Testament gestellt.

 

Der junge und der alte Judas
 

Wir klagen alle und wizzen doch nijt, waz uns wirret,
daz uns der bâbest, unser vater, alsus hât verirret.
nû gât er uns doch harte vaterlîchen vor,
wir folgen im nâch und komen niemer fuoz ûz sînem spor.
nû merke, werlt, waz mir dar ane missevalle:
gîtset er, siu gîtsent mit im alle,
liuget er, siu liegent alle mit im sîne lüge
und triuget er, siu triegent mit im sîne trüge.
nû merkent, wer mir daz verkêren müge:
sus wirt der junge Judas mit dem alten dort ze schalle.

 

Wir klagen alle und wissen doch nicht, was uns verwirrt,
da uns der Papst, unser Vater, so irregeführt hat.
Nun geht er uns doch höchst väterlich voran,
wir folgen ihm nach und kommen keinen Fußbreit aus seiner Spur.
Nun merke auf, Welt, was mir daran mißfällt:
Ist er geizig, so sind sie alle mit ihm geizig,
lügt er, so lügen sie alle mit ihm seine Lüge,
und betrügt er, so betrügen sie mit bei seinem Betrug.
Nun paßt auf, wer mir dies übel auslegen kann:
Auf diese Weise wird der junge Judas mit dem alten dort berühmt

 


In dieser Strophe klagt Walther über den Verfall des Klerus, der angeführt von seinem >Erzfeind<, dem Papst in Rom nicht mehr wie früher in Worten
und Werken Vorbild ist, sondern vielmehr durch deren Verfälschung ein schlechtes Beispiel gibt. Der am Schluss erwähnte klôsenære stellt das fromme
Gegenbild der verderbten Priester dar.

 

Schlechte Vorbilder
 

Swelh herze sich bî disen zîten niht verkêret,
sît daz der bâbest selbe dort den ungelouben mêret,
dâ wont ein sælic geist und gotes minne bî.
nû seht ir, waz der pfaffen were und waz ir lêre sî:
ê daz was ir lêre bî den werken reine,
nû sint si aber anders sô gemeine,
daz wirs unrehte würken sehen, unrehte hœren sagen,
die uns guoter lêre bilde sollten tragen,
des mugen wir tumbe leien wol verzagen.
ich wæn aber mîn guoter klôsenære klage und sêre weine.

 
Ein Herz, das in diesen Zeiten nicht vom rechten Weg abkommt,
nachdem der Papst selber dort den Unglauben mehrt,
in dem wohnt ein gesegneter Geist und Gottes Liebe.
Nun seht Ihr, was der Pfaffen Werk und was ihre Lehre ist:
Einstens war ihre Lehre nebst den Werken rein,
nun sind sie dagegen in der Weise übereinstimmend,
daß wir die Unrechtes tun sehen, Unrechtes sagen hören,
die uns ein Bild guter Lehre vorantragen sollten,
darüber können wir dummen Laien wohl verzagen.
Ich glaube, mein guter Klausner klagt wieder und weint schmerzlich.

 


Nun folgt wiederum eine religiös motivierte Klage. Hier ist der Papst nicht ausdrücklich erwähnt. Es werden jedoch dieselben Vorwürfe der Irreführung
der tumben leien durch das schlechte Beispiel des Klerus erhoben.

 

Irregeleitete Christenheit
 
Diu kristenheit gelepte nie sô gar nâch wâne.
die si dâ lêren sollten, die sint guoter sinne âne,
es wær ze vil und tæt ein tumber leie daz:
si sündent âne forhte, darumbe ist in got gehaz,
si wîsent uns zem himel und varent si zer helle,
si sprechent, swer ir worten folgen welle
- und niht ir werken – der sî âne zwîvel dort genesen.
die pfaffen sollten kiuscher danne die leien wesen,
an welen buochen hânt siu daz erlesen,
daz sich sô maniger flîzet, wâ er ein schœnez wîp vervelle?

 
Die Christenheit hat noch nie so völlig im Ungewissen gelebt.
Die sie lehren sollten, die sind ohne vernünftige Einsicht,
es wäre zu viel, auch wenn ein dummer Laie so handelte:
sie sündigen ohne Furcht, darum ist ihnen Gott feind,
sie verweisen uns auf den Himmel, wogegen sie zur Hölle fahren,
sie sagen, wer ihren Worten folgen wolle
–und nicht ihren Werken! -, der sei ohne Zweifel dort gerettet.
Die Pfaffen sollten keuscher als die Laien sein,
aus welchen Büchern haben sie das herausgelesen,
daß sich so mancher fleißig umtut, wo er eine schöne Frau zu Fall bringen könne?