Reinmar von Zweter
wurde vermutlich um 1200 geboren.
Nach eigenen Angaben (Spruch Nr. 150) "am Rhein geboren und in Österreich aufgewachsen".
Er begann seine dichterische Laufbahn um 1227 (Spruch Nr. 125) in Österreich.
Über seine genauere Herkunft und seine Familie geben die Urkunden keine Auskunft.
Er gilt als bedeutender Vertreter der Sangspruchdichtung zwischen Walther von der
Vogelweide und Frauenlob. Aufgrund seiner hohen Formkunst wurde er von den Meistersingern
des ausgehenden Mittelalters zu den "zwölf alten Meistern" gezählt.
Religiöse Strophe (Marienpreis), wie sie bei Reinmar und auch sonst in der Lyrik des Mittelalters häufig zu finden ist.
Dû sünden blôz
Du Sündenfreie
Dû sünden blôz, dû valsches bar,
himelvrowe gewaltic über al der engel schar,
des himels unt der erde unt swea dîn kint dar inne begriffen hât!
Dû Cristes muoter, reiniu magt,
du erliuhtest vinster naht, als si mit sunnen sî betagt,
dû gruntvest staeter triuwen, dû schirmaerinne Gotes hantgetât!
Du süenaerinne Cristen, Juden, heiden,
diu wol daz übel ze guote kan bescheiden,
dû portnaerîn, vor helle banden
gar sünder trôst, dîn helfe ich spür:
dû unt dîn sun, des heiles tür,
sint unser schirm vor sünden unt vor schanden.
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Du Sündenfreie, Du Fehlerlose,
Du Himmelsherrin, herrschend über die gesamte Schar der Engel,
über Himmel und Erde und alles, was Dein Sohn dort hineingetan hat!
Du Mutter von Christus, reine Jungfrau,
Du erleuchtest die finstere Nacht, so daß sie taghell wird,
Du Fundament unverbrüchlicher Liebe, Du Schirmerin von Gottes Geschöpfen!
Du Versöhnerin für Christen, Juden und Heiden,
die Böses von Gutem genau unterscheiden kann,
Du Pförtnerin, Schutz der Sünder
vor den Fesseln der Hölle, Deine Hilfe erkenne ich:
Du und Dein Sohn, die Türe zum Heil,
Ihr seid unser Schirm vor Sünden und Schanden.
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Das Bild der rota Fortunae, des Glücksrades, war dem Mittelalter durchaus geläufig. Reinmar kombiniert im Grunde zwei Vorstellungen:
das davonlaufende und das sich drehende Rad der Fortuna.
Gelückes rat ist sinewel
Das Glücksrad ist rund
Gelückes rat ist sinewel,
im loufet maneger nâch, doch ist ez vor im gar ze snel
und lât sich doch erloufen williclich, den ez beswîichen wil.
Swer stîget ûf Gelückes rat,
der darf wol guoter sinne, wie er behalte Gelückes stat,
deiz unter im iht wenke: wand ir daz rat hin ab im zucket vil.
Die müezen danne sîgen mit unwerde,
wan sie mit schanden ligen ûf der erde:
Gelücke wenket unbesorget,
ez gît vil manegem ê der zît
unt nimt hin wider swaz ez gît:
ez toeret den, swem ez ze vil geborget.
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Das Glücksrad ist rund
manch einer läuft ihm nach: doch ist es diesem viel zu schnell,
obwohl es sich freiwillig von jenem einholen läßt, den es betrügen will.
Wer auf dem Glücksrad nach oben steigt, benötigt seinen
ganzen Verstand, damit er den Stand auf dem Glück behalte, so daß es
unter ihm nicht schwanke: denn das Rad hat schon viele mit sich hinunter gezogen.
Die müssen dann in übler Weise dahinsinken,
denn sie liegen in Schanden auf der Erde:
Das Glück schwankt unberechenbar,
viele beschenkt es vorzeitig,
und es nimmt wieder weg, was es gegeben hat:
Es macht denjenigen zum Narren, dem es zu viel geborgt.
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Eine der vielen Scheltstrophen gegen ein Laster, hier die Trunksucht.
Diu trunkenheit tuot grôzen schaden
Die Trunksucht richtet großen Schaden an
Diu trunkenheit tuot grôzen schaden,
si tuot di sêle sünden unde schanden überladen,
si machet manegen man, daz im Got unt die liute werdent gram.
Diu trunkenheit tuot dannoch mê,
si schadet an dem guote unt tuot dâ bî dem lîbe wê,
si stummet unde blendet, si toeret unde machet manegen lam.
Sît daz si toetet sêle, lîp unt êre
unt benimt daz guot unt prüevet schaden noch mêre,
wie sol man in heizen dannen,
der ir wil volgen zaller stunt?
Ꞌher trunkenbolt, her trunkensluntꞋ
sus heizt er wol von wîben unt von mannen.
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Die Trunksucht richtet großen Schaden an,
sie häuft Sünde und Schandbarkeit auf die Seele,
sie macht viele Männer bei Gott und den Leuten verhaßt.
Die Trunksucht tut aber noch mehr:
Sie beeinträchtigt den Besitz, und sie schadet der Gesundheit,
sie macht stumm und blind, sie macht dumm und lahm.
Da sie also Seele, Körper und Ansehen tötet,
den Besitz wegnimmt und noch weiteren Schaden anrichtet,
wie soll man dann denjenigen heißen,
der ihr trotzdem zu aller Zeit anhängt?
ꞋHerr Trunkenbold, Herr TrunkenhalsꞋ,
so nennen in Frauen und Männer zu Recht.
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Reinmar tadelt hier Ugo(lino) von Segni =Hügel(in), der jetzt als Papst (Peter) Gregor IX. (1227-4199) eine gegen das Reich gerichtete und durch
Geldgier gekennzeichnete Politik betreibe.
Des vater swert unt ouch des suns
Das Schwert des Vaters und des Sohnes
Des vater swert unt ouch des suns
diun hellent niht gelîche: daz becrenket si unt uns:
des vater swert âgreifet ûf Hügelîn unt ûf des rîches haz.
Swâ sîn daz rîche hin bedarf,
man enwetzez mit dem golde, anders wirt ez nimmer scharf:
daz selbe swert truoc wîlent der grâwe hêrre Sente Pêter baz.
Nû treit ez Pêter Hügel mit dem schîne:
dô man Grêgôrjum worhte ûz Pêterlîne,
dô solt er mit dem selben swerte
sich Hügelînes hân erwert,
der noch mit uns nâch schatze vert
an Pêters stat, der niht wan sêlen gerte.
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Das Schwert des Vaters und des Sohnes,
die befinden sich nicht mehr in Harmonie: das schadet ihnen und uns.
Das Schwert des Vaters trifft daneben, wenn es dem Ugolino und gegen das Reich dient.
Wenn immer das Reich seiner bedarf,
dann muß man es mit Gold wetzen, denn anders wird es nicht mehr scharf:
Dieses Schwert trug einstmals Sankt Peter, der greise Herr, besser.
Jetzt trägt es Peter Ugolino, der Scheinheilige:
Als man aus dem kleinen Peterlein den Gregorius schuf,
da hätte er (Sankt Peter) sich mit eben diesem Schwert
des Ugolino erwehren sollen,
der nach wie vor nach Schätzen strebt
auf den Sitz jenes Peter, der nur nach Seelen verlangte.
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Der triuwen triskamerhort
Schatz in der Schatzkammer der Treue
Der triuwen triskamerhort,
ein ankerhaft der staete, ein vürgedanc ûf ieglich wort,
ein wahter Cristentuomes, Roemischer êren gruntveste unde
grunt, ein bilder houbethafter zuht,
ein volliu gruft der sinne, ein sâme saeldebernder vruht,
ein zunge rehter urteil, vrides hant, gewisser worte ein munt.
Ein houbet, dem nie smit deheine crône
vol machen kunde sîner tugent ze lône,
dem houbet suln wir al gelîche
wünschen lange wernder tage:
wes lîp, wes herze daz lop trage?
des suln wirjehen dem keiser Vriderîche.
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Schatz in der Schatzkammer der Treue,
Ankergrund der Beständigkeit, Besonnenheit bei jedem einzelnen Wort,
Wächter der Christenheit, Fundament und Grundlage der Ehre Roms,
Bildner der vorzüglichsten Eigenschaften,
Gewölbe voll an Verstand, Same von glückbringender Frucht,
Zunge gerechter Urteile, Hand des Friedens, Mund unverbrüchlicher Worte,
Haupt, dem niemals ein Schmied eine Krone
entsprechend all seinen Vorzügen herstellen könnte,
diesem Haupt sollen wir alle zusammen
ein langes Leben wünschen:
Von welcher Person, von welchem Herz dieses Lob handle?
Das müssen wir zusprechen dem Kaiser Friedrich!
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Got, alter unde niuwer Crist
Gott, Vater und Sohn
Got, alter unde niuwer Crist,
sît alle crêâtiure in dîner hant beslozzen ist,
der himel unt diu erde, wazzer, viur, luft unt alliu engelschaft;
Den liehten tac, die trüeben naht
mit loufe wol berihtet hât dîn götelîchiu maht,
diu ie ân anegenge unt immer ist mit endelôser craft;
Dû angesihticlîchen wunder taete,
dô man dich sach in menschlîcher waete
unt vor den Juden sunderlîche:
lâz uns alrêrst dîn ellen sehen,
des dir die Cristen müezen jehen,
unt widerstant von Stoufen Vriderîche!
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Gott, Vater und Sohn,
da alle Geschöpfe in Deiner Hand beschlossen liegen,
der Himmel und die Erde, Wasser, Feuer, Luft und die ganze Engelschar;
Deine göttliche Macht den Lauf des hellen Tages
und der dunklen Nacht unterschieden hat,
die ohne Anfang und von nie endender Kraft ist;
der Du sichtbare Wunder tatest,
als man Dich in menschlicher Gestalt sah,
und zwar herausgehoben unter den Juden:
Laß uns endlich Deine Macht sehen,
die Dir die Christen zusprechen,
und leiste Widerstand gegen den Staufer Friedrich!
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Mit Hilfe einer höhnischen Fiktion, einer Lügengeschichte, beschreibt Reinmar den derzeitigen Zustand des Reiches. Sogar der Doge von Venedig,
ein Kürschner (Kaufmann) aus jener reichen Handelsstadt, wolle sich jetzt am Geschacher um die deutsche Reichskrone beteiligen.
Venediaer die hânt vernomen
Die Venezianer haben gehört
Venediaer die hânt vernomen,
daz Roemisch rîche veile sî, des sint in brieve komen:
nû hânt si sich vermezzen, si wellen dar zuo gerne ir stiure geben,
daz ez noch kome in ir gewalt;
swaz si daz kosten mac, des sint si willic unde balt:
si jehent, wurde in daz rîche, si wolden immer deste gerner leben.
Ir herzog ist ein mehtic kürsenaere,
unt wart ie kürsenaere crônebaere
mit sînem igelvarwen glatze,
sô mac ouch er wol crône tragen:
son darf ouch vürbaz nieman jagen,
der ez nû müge vergelten baz mit schatze.
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Die Venezianer haben gehört,
daß das römische Reich zum Verkauf stünde — das sei ihnen schriftlich berichtet worden:
Nun haben sie es sich herausgenommen, daß sie gerne ihre Mittel dafür einsetzen,
daß es doch noch in ihre Gewalt komme;
was es auch kosten möge, dazu seien sie willig und fähig: sie sagen,
wenn das Reich in ihren Besitz käme, dann würden sie künftig noch lieber leben.
Ihr Herzog ist ein mächtiger Kürschner,
und wurde ein Kürschner mit seiner Igel-Glatze
jemals würdig für die Krone,
so kann er die Krone auch durchaus tragen:
dann braucht künftig niemand mehr nach ihr auf die Jagd zu gehen,
der jetzt imstande wäre, dafür noch mehr Schätze zu bezahlen.
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Quelle:
©Reclam1993/Deutsche Gedichte des Mittelalters/übersetzt und kommentiert /©Ulrich Müller&Gerlinde Weiss.
Wache Cristen, ez wil tagen
Wacht auf, ihr Christen, es wird Tag werden!
Wache Cristen, ez wil tagen!
der han hât zwir gekraet, ich wilz iu waerlîchen sagen:
ez nâhet gegen den morgen, daz Got wil rechen alliu siniu leit.
er wil uns alle lâzen sehen,
swaz im grôzer marter durch uns sünder ist geschehen;
daz solten wir besorgen, sô waer sîn helfe gegen uns gar bereit.
swenne er uns zeiget sper, criuze unde crône,
der gewaltic sitzet in dem trône,
sô kan im nieman widerstrîten.
erst gewaltic über elliu lant:
ir Cristen, dar an sît gemant
unt warnet iuch gein im in kurzen fristen!
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Wacht auf, ihr Christen, es wird Tag werden!
Der Hahn hat zweimal gekräht, ich will es euch wahrheitsgemäß sagen:
es naht der Morgen, an dem Gott all sein Leid rächen wird.
Er wird uns alle sehen lassen,
was immer ihm an großer Pein um unsretwillen angetan wurde;
bedenken wir das, dann käme seine Hilfe uns ganz und gar zugute.
Wenn er — der mächtig auf seinem Throne sitzt —
uns Speer, Kreuz und Krone zeigt,
kann ihm niemand widerstreiten.
Er hat Macht über alle Länder:
ihr Christen, seid daran erinnert
und macht euch für ihn in kürzester Zeit bereit!
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Grôz wunder, daz uns ist geschehen
Großes Wunder ist uns widerfahren
Grôz wunder, daz uns ist geschehen
von einer megde, des mir alle Cristen müezen jehen!
den des himels wîte nie umbevie, diu ende nie gewan
noch mit der hoehe in umbevie
noch mit der wîten tiefen grundelôsen helle nie,
den umbevie ir cleiner lîp: dâ merket alle wunder an!
si leite in minneclîchen zuo ir schôzen.
waz wunders mac dem wunder sich genôzen?
kintlîchen leite er sich zir brusten,
muoterlîche sougte si in;
si wante ir ougen dicke an in:
wir habenz dâ vür, si hiels in unde kusten.
Großes Wunder ist uns widerfahren
von einer Jungfrau, wozu mir alle Christen beipflichten müssen!
Den niemals vorher die Weite des Himmels, die doch so unendlich ist, umschlossen hat,
noch mit ihrer (unermeßlichen) Höhe umschloß,
noch mit der weiten, tiefen, unergründlichen Hölle —
den umschloß ihr kleiner Körper: da sollt ihr alle das Wunder erkennen!
Sie legte ihn liebevoll auf ihren Schoß.
Welches Wunder vermag sich mit diesem Wunder vergleichen?
Kindgemäß legte er sich an ihre Brust,
mütterlich stillte sie ihn;
sie wandte ihm ihre Augen oft zu:
wir sind ganz sicher, sie umarmte und küßte ihn.
Quelle:
©Marix/ Deutsche Lyrik des Mittelalters/2005/Herausgegeben und kommentiert.©Manfred Stange