Fab.1
Der Hahn und die Perle
Zuerst hat Äsop eine Fabel über sich selbst erzählt.
Ein Hahn, der auf einem Misthaufen seine Nahrung suchte, fand
eine Perle, die an diesem
unwürdigen Orte lag. Als er ihrer gewahr wurde, sagte er: "Du
bist eine wertvolle Sache
und liegst auf dem Mist! Hätte dich ein Habsüchtiger gefunden,
mit welcher Freude würde
er dich an sich gerissen haben, um dich in den Glanz deiner
einstigen Schönheit
zurückzuführen. Nun habe ich dich hier an diesem Ort gefunden
und suche doch viel
mehr nach Nahrung. Ich kann dir nichts nützen und du mir
nichts!"
Das erzählt Äsop denen, die ihn lesen und doch nicht begreifen.
Fab.2
Die Hunde und die Gerberhaut
Ein gegerbtes Fell erblickten Hunde in einem Flusse. Um es
leichter herausholen zu
können, fingen sie an, das Wasser zu lecken. Dabei platzten sie
und fanden den Tod,
ehe sie zu erreichen vermochten, was sie begehrt hatten.
Die Fabel zielt auf Leute, die aus unreifer Überlegung etwas in
Angriff nehmen möchten,
was sie doch nicht schaffen können.
Fab.3
Der Wolf und das Lamm
Über einen Unschuldigen und einen Frevler erzählte Äsop die
folgende Geschichte.
Das Lamm und der Wolf kamen durstig aus verschiedenen Richtungen
zum Bach. Oben
trank der Wolf und viel weiter unten das Lamm. Kaum hatte der
Wolf das Lamm erblickt,
brüllte er: "Du hast mir das Wasser, das ich trinken wollte,
getrübt!" Das geduldige
Lamm erwiderte: "Wie könnte ich dir das Wasser trüben, das doch
von dir zu mir
geflossen kommt?" Der Wolf indes errötete nicht, der Wahrheit zu
widersprechen,
sondern sagte: "Du verleumdest mich." – "Ich habe dich nicht
verleumdet", entgegnete
das Lamm. Darauf der Wolf: "Aber dein Vater war vor sechs
Monaten hier, und der hat
es getan." – "Da soll ich bereits geboren gewesen sein?"
antwortete das Lamm. Darauf
der Wolf mit seinem bösen Maule: "Was schwätzt du Räuber noch?"
Und alsbald wandte
er sich gegen das Lamm und nahm dem unschuldigen Wesen das
Leben.
Die Fabel ist für diejenigen erzählt, die ihren Mitmenschen übel
mitspielen.
Fab.4
Der Frosch und die Maus
Wer sich über das Wohl eines andern Nachteiliges ausdenkt,
entgeht seiner Strafe nicht.
Darüber hört die folgende Fabel.
Als die Maus einen Fluß überqueren wollte, bat sie den Frosch um
Hilfe. Der verlangte
einen dicken Faden, band damit die Maus an seinem Fuße fest und
fing an zu schwimmen.
In der Mitte des Flusses aber drehte der Frosch sich um, um der
armen Maus das Leben
zu rauben. Während diese ihre Kräfte stärker anspannte, kam
ihnen der Weih
entgegengeflogen, packte die Maus mit seinen Krallen und trug
zugleich auch den Frosch,
der an ihr hing, davon.
So nämlich ergeht es denen, die sich über das Wohl eines andern
Nachteiliges ausdenken.
Fab.5
Das
verklagte Schaf
Auf heimtückische Leute zielt diese Fabel.
Die Heimtückischen denken sich nämlich immer gegen die
Anständigen Lügen aus und
halten sich ihre gleichgesinnte Gruppe, ja kaufen sogar falsche
Zeugen.
Auf die also ist die folgende Fabel gemünzt.
Ein hinterhältiger Hund behauptete, das Schaf sei ihm noch ein
Brot schuldig, das er ihm
geliehen habe. Das Schaf erwiderte jedoch, es habe niemals von
dem Hund Brot
erhalten. Als sie aber vor den Richter kamen, gab der Hund an,
er verfüge über Zeugen.
Zur Aussage gerufen, sagte der Wolf: "Ich weiß, dem Schaf wurde
Brot geliehen."
Der Weih, zur Aussage gerufen, stellte fest: "In meiner
Gegenwart hat das Schaf Brot
erhalten." Als man den Habicht hereingeführt hatte, fragte er
das Schaf: "Warum willst
du leugnen, was du bekommen hast?" Das so durch drei falsche
Zeugen überführte Schaf
wurde hart bestraft. Den Nachrichten zufolge zwang man es
nämlich, seine Wolle vor der
Zeit zu verkaufen, um zurückgeben zu können, was es nicht
empfangen hatte.
So tun die heimtückischen Leute den Unschuldigen und Hilflosen
Böses an.
Fab.6
Der habgierige Hund
Wer habsüchtig nach Fremdem giert, verliert das Eigene.
Von solchen Leuten handelt Äsops Fabel, wie folgt.
Ein Hund, der einen Fluß überqueren wollte, trug ein Stück
Fleisch im Maule. Als er
dessen Schatten im Wasser gewahr wurde, öffnete er sein Maul, um
auch danach zu
schnappen. Alsbald trug der Fluß das Stück, das er zuvor
gehalten hatte, mit sich fort,
und jenes andere, das er im Wasser verborgen glaubte, konnte er
nicht bekommen.
So verliert ein jeder, der Fremdes begehrt, während er doch mehr
haben möchte,
noch sein Eigentum.
Fab.7
Die beiden Hähne und der
Habicht
Ein Hahn lag mit einem andern Hahn immer wieder in Streit.
Schließlich rief er den
Habicht als Unparteiischen an. Von dem Habicht aber hoffte er,
daß dieser, wenn sie
beide vor ihm kämen, seinen Gegner, den er mitbringen würde,
auffressen werde.
Als sie jedoch vor dem Richter kamen, um ihre Sache vorzutragen,
packte der Habicht
gerade den zuerst, der ihn vorher um den Schiedsspruch gebeten
hatte. Da schrie der
Hahn: "Nicht ich bin es, sondern der, welcher jetzt fliehen
möchte!" Ihm erwiderte der
Habicht: "Glaub ja nicht, daß du heute aus meinen Klauen
entkommst! Denn es ist nur
recht und billig, daß du selber ertragen mußt, was du dem
anderen zudachtest."
Leute, die den Tod anderer betreiben, wissen nicht, was dabei
für sie selber auf dem
Spiel steht.
Fab.8
Der Löwenanteil
Wenn der Mächtige mit dem Armen teile, ginge es niemals
ordentlich zu, heißt es im
Sprichwort. Wollen wir sehen, was dazu die folgende Fabel allen
Menschen zu erzählen
hat.
Die Kuh, die Ziege und das Schaf schlossen einmal mit dem Löwen
Freundschaft. Als sie
nun im Gebirge auf Jagd gegangen waren, brachten sie einen
Hirsch zur Strecke und
teilten ihn. Da sprach der Löwe: "Den ersten Teil erhalte ich,
weil ich der Löwe bin; der
zweite gehört mir, weil ich so viel stärker bin als ihr. Den
dritten aber nehme ich für
mich in Anspruch, weil ich mehr gelaufen bin als ihr, und wer
endlich den vierten anrührt,
muß auf meine Feindschaft rechnen." So trug er dank seiner
Unverschämtheit die ganze
Beute allein davon.
Die Fabel mahnt alle, sich nicht mit den Mächtigen einzulassen.
Fab.9
Die Schnecke und der
Spiegel
Eine Schnecke fand einen Spiegel, und wie sie ihn so glänzen
sah, verliebte sie sich in
ihn. Und sogleich zog sie sich über die Spiegelfläche hin und
fing an, diese zu belecken.
Doch dabei kam nichts anderes heraus, als daß sie seinen Glanz
durch Schleim und
Schmutz trübte. In solcher Verunreinigung fand der Affe den
Spiegel und meinte:
"Wer sich solchen Leuten hingibt, der verdient kein anderes
Los!"
Das geht auf Frauen, die sich mit dummen, nichtsnutzigen Männern
verbinden.
Fab.10
Die Hochzeit der Sonne
Von seiner Natur kann keiner los, und aus dem Schlechten wird
nur Schlimmeres geboren;
davon gibt die Fabel Zeugnis, wie folgt.
Leute, die in der Nachbarschaft eines Diebes wohnten, nahmen an
dessen Hochzeitsfeier
teil. Da kam unser Weiser hinzu, und wie er die Nachbarn
gratulieren sah, begann er
seine Erzählung.
"Vernehmt", sprach er, "eure Freuden! Der Sonnengott wollte sich
eine Frau nehmen.
Da waren alle Leute dagegen und wandten sich mit lautem Geschrei
vorwurfsvoll an
Jupiter. Das veranlaßte den Gott, danach zu fragen, was ihnen
denn Böses geschehen
sei. Einer aus der Menge antwortete Jupiter: "Jetzt gibt es nur
eine Sonne, und bereits
diese bringt mit ihrer Hitze alles in Unordnung, so daß die
ganze Natur Mangel leidet.
Was aber wird aus uns werden, wenn der Sonnengott noch Söhne
zeugt?"
Fab.11
Der Wolf und der Kranich
Wer dem Bösen eine Wohltat erweisen möchte, begeht einen großen
Fehler.
Vernimm darüber eine ähnliche Geschichte.
Als der Wolf Knochen verzehrte, blieb ihm einer davon ganz quer
im Halse stecken.
Da stellte er dem, der ihn von diesem Übel befreite, eine große
Belohnung in Aussicht.
Angelegentlich wurde der Kranich gebeten, mit seinem langen
Halse dem Wolfe Heilung
zu bringen, das heißt, seinen Kopf in den Wolfsrachen zu stecken
und das Hindernis
herauszuholen. Als der Wolf wieder bei Gesundheit war, ersuchte
der Kranich dessen
Unterhändler um Auszahlung der versprochenen Belohnung. Der Wolf
aber, sagt man,
habe bloß geantwortet: "Dieser Kranich ist undankbar. Unversehrt
und unbeschädigt
durch mein Gebiß hat er seinen Kopf herausgezogen und möchte
dazu noch einen
Lohn sehen! Wie springt man mit meinen guten Eigenschaften um!"
Dieses Gleichnis ist eine Mahnung für jene, die den Bösen Gutes
tun wollen.
Fab.12
Die Hündin im
Schweinestall
Glatte Worte eines bösen Menschen bringen schweres Ungemach. Wie
wir dem alle
entgehen können, mahnen uns die folgende Darlegung.
Eine Hündin, die gebären wollte, bat die Sau: "Laß mich in
deinem Stall meinen Wurf
absetzen." Die Sau willfahrte der Bitte und ließ die Hündin
hinein. Nachdem diese aber
geworfen hatte, bat sie darum, bis ihre Jungen widerstandsfähig
wären, bleiben zu
können. Auch dieser Bitte wurde entsprochen. Nach geraumer Zeit
jedoch wollte die Sau
ihr Quartier zurückhaben und nötigte die Hündin auszuziehen. Die
aber sagte verärgert:
"Was belästigst du mich? Warum zeigst du dich mir so ungerecht?
Bist du freilich stärker
als wir, so werde ich dir deinen Platz zurückgeben."
So verlieren die Guten ihr Eigentum, die anderen um glatter
Worte willen glauben.
Fab.13
Die undankbare Schlange
Wer einem Bösen Hilfe bringt, muß wissen, daß er einen großen
Fehler begeht,
und wenn er jenem Gutes getan hat, so muß er wissen, daß er
durch ihn Schaden
erleidet. Darum laßt uns die folgende Fabel anhören.
Weil sie vor Frost und Kälte erstarrt war, nahm einer, um ein
gutes Werk zu tun,
eine Schlange mit sich; die hielt er in seinen vier Wänden und
ließ ihr den ganzen Winter
hindurch Gutes zuteil werden. Als sie aber mit der Zeit wieder
zu Kräften kam, verhielt
sie sich höchst unpassend und verdarb viel mit ihrem Gift. Denn
um nicht mit Dank
scheiden zu müssen, wollte sie als Frevlerin vertrieben werden.
Diese Fabel sollten die vielen beherzigen, die aus freien
Stücken sich für undankbare
Leute hingeben, welche bei ihrem Abgang noch Schaden bringen
möchten.
Fab.14
Der
Esel und der Eber
Über die, welche zur Unzeit lachen, hat der weise Äsop die
folgende Geschichte zum
besten gegeben.
Wenn manche Leute sich zum Gelächter machen, fügen sie einem
andern Schaden zu
und tun sich selbst Böses an, so wie jener Esel, der dem Eber
begegnete.
"Sei gegrüßt, Bruder", sprach er. Verdrossen schwieg der Eber,
seinen Zorn verbergend,
und schüttelte das Haupt. "Das sei ferne", meinte er, "daß ich
mit dummem Blut meine
Zähne beschmutze; denn ich muß diesen Kerl schmähsüchtig, wie er
ist, oder aber in
Fetzen gerissen auf dem Platze lassen."
Die Fabel erinnert uns daran, daß wir den Schwachsinnigen
Schonung angedeihen lassen,
uns aber gegen die Dummköpfe zur Wehr setzen müssen, die sich an
ihnen Überlegenen
zu vergehen wagen.
Fab.15
Die Landmaus und die
Stadtmaus
Daß es besser ist, sorgenfrei in Armut zu leben als im Reichtum
von Ekel verzehrt zu
werden, wird durch die folgende kurze Geschichte unseres Autors
bewiesen.
Die Stadtmaus machte sich auf die Reise und fand gastliche
Aufnahme. Die Landmaus
bat sie nämlich, daß sie ihr in ihrer Hütte, so bescheiden sie
auch sein mochte, Eicheln
und Korn vorsetzen dürfe. Bei ihrer Rückkehr lud darauf die
Stadtmaus ihre Gevatterin
zum Mitkommen und zum Frühstück ein.
So geschah es, daß sie sich gemeinsam auf den Weg machten.
Zusammen betraten sie
ein wohlhabendes Haus, wo ihrer ein Keller harrte, der mit allen
guten Dingen angefüllt
war. Das zeigte die Stadtmaus der Landmaus und sprach: "Genieße
mit mir, Freundin,
was uns alle Tage im Überfluß zur Verfügung steht."
Und während sie sich an den vielen Genüssen gütlich taten, kam
der Kellermeister
angeeilt und schlug an die Kellertür. Durch den Lärm
aufgeschreckt, suchten die Mäuse
auf verschiedenen Wegen zu entrinnen. Die Stadtmaus vermochte
sich in den ihr
wohlbekannten Gängen rasch zu verbergen, die arme Landmaus
dagegen bemühte sich
in ihrer Unerfahrenheit, über die Wände zu entkommen, und
glaubte ihr letztes Stündlein
nahe. Sowie aber der Kellermeister hinausgegangen war und die
Kellertür hinter sich
verschlossen hatte, wandte sich die Stadtmaus an die vom Lande:
"Warum hast du dich durch dein Davonlaufen so in Aufregung
gebracht? Genießen wir,
Freundin, diese guten Sachen; du brauchst nichts zu scheuen und
nichts zu fürchten."
Doch die Landmaus erwiderte: "Du sollst das alles genießen, weil
du ja Angst und Furcht
nicht kennst und dir die tägliche Aufregung nichts ausmacht. Ich
dagegen lebe
bescheiden auf dem Lande, wo ich immer fröhlich sein kann, kein
Schrecken mich stört
und keine Unruhe. Du nämlich lebst in ständiger Aufregung, es
gibt für dich keine
Sättigung, und am Ende wirst du in der Mausefalle sitzen, die
Katze wird dich fangen und
auffressen."
Diese Fabel schilt diejenigen, die sich mit Bessergestellten
verbinden, um irgendwelche
guten Dinge genießen zu können, die ihnen das Schicksal versagt
hat. Die Leute sollten
jedoch das einfache Leben lieben und dann sorgenfrei in ihren
Behausungen leben.
Fab.16
Der Adler und die Füchsin
Die Mächtigen müssen die Schwachen fürchten, wie diese Fabel
bezeugt.
Einst packte der Adler die Jungen der Füchsin und brachte sie in
sein Nest, um sie seinen
Sprößlingen als Futter darzubieten. Die Füchsin verfolgte den
Adler und bat ihn
inständig, ihr ihre Jungen zurückzugeben. Doch der Adler
mißachtete die Füchsin als
ihm unterlegen. Schmerzerfüllt nahm sich da die Füchsin von
einem Altar Feuer in
Gestalt einer brennenden Fackel und häufte Stroh um den Baum
herum.
Als nun Rauch und Flamme sich ausbreiteten, erfaßte den Adler
qualvolle Sorge um
seine eigene Brut, daß sie in den Flammen dem Tod finden könnte,
und er brachte die
jungen Füchslein der flehentlich bittenden Mutter unversehrt
zurück.
Die Fabel ist eine Lehre für viele, daß man an den Schwachen
nicht sein Mütchen kühlen
und sich nicht von irgendeiner Flamme verbrennen lassen soll.
Fab.17
Der Adler und die
Schildkröte
Wer beschützt und gesichert ist, kann von einem schlechten
Ratgeber zu Fall gebracht
werden. Unser Erzähler berichtet darüber, wie folgt:
Der Adler packte die Schildkröte und flog mit ihr durch die
Lüfte. Die Schildkröte zog sich
zusammen und war von keiner Seite zu fassen. Da kam ihm die
Krähe entgegengeflogen
und machte dem Adler schöne Worte: "Du trägst eine vortreffliche
Beute", sagte sie.
"Doch ich will dir einen Kniff verraten; denn grundlos schleppst
du dich an einer Last,
zu der deine Kräfte nicht ausreichen werden." Der Adler
versprach einen Teil der Beute,
da gab die Krähe ihren Rat: "Bis zu den Sternen mußt du fliegen,
dort, wo unten
steiniger Boden ist. Dort, schlage ich vor, läßt du die Beute
von oben herunterfallen,
so daß die Hornschalen zerbrechen und wir das Fleisch als Futter
nutzen können."
Das habe der Adler getan, und die Schildkröte, welche ihre Natur
geschützt hatte,
verlor durch den bösen Rat das Leben.
Fab.18
Der Kranich und die Krähe
Der Kranich und die Krähe hatten sich miteinander verbündet und
beschlossen, daß der
Kranich die Krähe gegen die andern Vögel schützen und die Krähe
dem Kranich über zu
erwartende Geschehnisse berichten sollte.
Als nun die Beiden des öfteren einen Acker aufsuchten und das
Getreide, das dort einmal
gesät worden war, bis zur Wurzel abzupften, sah das der Besitzer
des Ackers mit
Schmerzen und sprach zu seinem Buben: "Gib mir einen Stein!" Das
signalisierte die
Krähe dem Kranich, und sie verhielten sich vorsichtig. Als die
Krähe auch am nächsten
Tage hörte, daß der Stein verlangt wurde, warnte sie aufs neue
den Kranich vor bösen
Folgen. Da wurde jenem Manne klar, daß die Krähe Warnungen gab,
und er sagte zu
seinem Buben: "Wenn ich sage: >Gib mir einen Bissen!< dann
reichst du mir einen
Stein." So geschah's, der Mann bat den Buben um einen Bissen,
der aber reichte ihm
den Stein, welcher den Kranich traf und ihm die Schenkel
zerschmetterte. Da sprach der
Verwundete die Krähe an: "Wo sind deine göttlichen Weissagungen?
Warum hast du mich
nicht gewarnt, daß mir das passieren könnte?" Doch die Krähe
antwortete: "Nicht meine
Intelligenz trägt hierbei die Schuld, leidbringend sind vielmehr
die Ratschläge all der bösen
Leute, die etwas anderes tun, als sie sagen."
Die Fabel geht auf Leute, die durch Versprechungen Unschuldige
verleiten, denen sie
später ohne Zögern Schaden zufügen.
Fab.19
Der Fuchs und der Rabe
Wer sich mit hinterhältigen Worten loben läßt, hat es zu
bereuen, wenn er betrogen
wird. Auf solche Leute paßt diese Fabel.
Der Rabe stahl aus einem Fenster einen Käse und ließ sich auf
einem Baumwipfel nieder.
Als dessen der Fuchs gewahr wurde, rief er den Raben an: "O
Rabe, wer möchte dir
gleichkommen? Wie prachtvoll ist der Glanz deiner Federn! Und
welchen Schmuck würde
es für dich bedeuten, wenn du eine helle Stimme hättest; kein
andrer Vogel könnte dir
überlegen sein." Der Rabe aber wollte sich dem Fuchs gefällig
zeigen und seine Stimme
zu Gehör bringen; also begann er laut hoch droben zu krächzen,
dabei vergaß er den
Käse, der ihm, als er den Schnabel öffnete, entfiel. Der
hinterlistige Fuchs dagegen
schnappte voller Gier danach. Da seufzte der Rabe, denn es reute
ihn, daß er sich so
dumm hatte hinters Licht führen lassen.
Doch was hilft die Reue, wenn, was geschah, nicht mehr zu ändern
ist?
Fab.20
Der kranke Löwe
Wer seine Stellung verliert, sollte auch sein früheres Auftreten
preisgeben, um nicht von
jedem x-beliebigen Unrecht erdulden zu müssen, wie die folgende
Fabel beweist.
Altersschwach und abgezehrt lag der Löwe schwer leidend vor
seiner Höhle und harrte
seines letzten Stündleins. Da trat der Eber mit seinen scharfen
Zähnen zu ihm und nahm
wutschnaubend Rache für einen früheren Schlag. Der Stier stieß
seine Hörner in den Leib
seines Feindes, des Löwen. Als dessen der Esel gewahr wurde,
trat er ihm mit seinen
Hufen ins Gesicht. Da sprach der Löwe mit Seufzen und Stöhnen:
"Als ich bei Kräften
war, da stand ich in Ansehen und erweckte Furcht, daß alle
meinen Anblick mieden und
manche sogar vor meinem Namen erschraken. Und selbst die, denen
ich aus Wohlwollen
nichts antat, denen ich sogar zum Helfer wurde, mißhandeln mich
heute. Weil ich eben
kraftlos bin, ist es mit meiner früheren Geltung dahin."
Diese Fabel ist eine Warnung für viele, die sich daran gewöhnt
haben, in Geltung zu stehen.
Fab.21
Der
zärtliche Esel
Wer keine Reverenz zu erweisen hat, der sollte sich nicht den
Höhergestellten aufdrängen.
Darüber hat der Dichter die folgende Fabel erzählt.
Der Esel sah, wie das Hündchen täglich seinem Herrn
schmeichelte, sich von seinem
Tische nährte und von den Angehörigen des Herrn viele Geschenke
erhielt. Da hat
sich der Esel gesagt: "Wenn mein Herr und seine ganze Familie
ein so schmutziges Tier
derart lieben, um wieviel höher müßten sie mich dann schätzen,
wenn ich ihnen
meine Reverenz erweise? Denn ich bin doch etwas sehr viel
Besseres als der Hund,
weil ich zu vielen Sachen nützlich bin. Ich nähre mich von
Wasser aus geweihten Quellen,
und saubere Speise wird mir dargeboten; ich könnte jedoch noch
ein besseres Leben
haben und größere Achtung genießen."
Während der Esel das bei sich erwog, bemerkte er, daß sein Herr
eintrat. Eilig lief er zu
ihm hin, iahend sprang er an ihm hoch, trat zu ihm und legte die
erhobenen Vorderfüße
auf beide Schultern des Herrn; dabei beleckte er ihn mit der
Zunge, beschmutzte ihm
den Rock und wurde ihm durch sein Gewicht lästig. Das Geschrei
des Herrn rief dessen
Angehörige herbei; die griffen zu Knüppeln und Steinen, fallen
über den Esel her,
schlagen ihm zum Krüppel und treiben ihn mit gebrochenen
Gliedern und Rippen zu
seiner Krippe zurück, halbtot und entkräftet.
Die Fabel mahnt, daß kein Unwürdiger sich vordrängen soll, um
die Funktion eines
Höherstehenden wahrzunehmen.
Fab.22
Der Löwe und die Maus
Begeht der Schwache einen Fehler, so muß er, wenn er darum
bittet, Verzeihung
erlangen, damit nicht eine Lage eintreten kann, wo er Rache zu
üben vermag.
Vernehmen wir die Fabel, die für uns auf diese Situation hin
abgefaßt ist.
Als der Löwe im Walde schlief, gerieten die Feldmäuse außer Rand
und Band, und eine
von ihnen stieg unfreiwillig über den Löwen. Dadurch aufgeweckt,
schlug der Löwe
blitzschnell nach der armen Maus und packte sie. Die bat
flehentlich um Gnade, denn sie
habe ja nicht in böser Absicht gehandelt. Ihr Vergehen
begründend, gestand sie
demütig, daß auch die andern herumgetollt seien und sie allein
von ihnen die Schuld auf
sich geladen habe. Der Löwe aber bedachte bei sich, ob es in
dieser Sache Vergeltung
bedeute, wenn er die arme Maus töte; Ruhm würde es ihm bestimmt
nicht einbringen,
allenfalls Tadel. Darum verzieh er ihr und ließ sie laufen.
Wenige Tage später geriet der Löwe in eine Grube. Als er sich
gefangen sah, fing er ein
gewaltiges Gebrüll an und brachte laut seinen Schmerz zum
Ausdruck. Kaum hatte das
die Maus bemerkt, lief sie herbei und fragte den Löwen, was ihm
denn Schlimmes
passiert sei. Und nachdem sie erfuhr, daß er gefangen sei,
sprach sie: "Es besteht keine
Veranlassung, daß du dich ängstigst; denn ich werde mich dir in
gleicher Weise gefällig
zeigen, da ich mich sehr wohl deiner Großmut erinnere." So
sprach sie und sah sich
genau alle seine Stricke an. Nachdem sie die Stellen, die sie
annagen mußte, gefunden
hatte, nahm sie mit ihrem Schnäuzchen die Arbeit auf, trennte
nach und nach mit ihren
Zähnen die Schnüre und lockerte die kunstvollen Fesseln. So gab
die Maus den
gefangenen Löwen in Freiheit seinen Wäldern zurück.
Es mahnt die Fabel, auch den ganz Kleinen kein Leid zu tun.
Fab.23
Der kranke Weih
Was soll, wer immer lästert, in der Bedrängnis erbitten? Wollen
wir sehen, was für eine
Fabel unser Autor dazu zu erzählen weiß.
Als der Weih krank war und schon viele Monate darniederlag und
für sein Leben schon
keine Hoffnung mehr sah, bat er seine Mutter unter Tränen, die
heiligen Stätten zu
besuchen und für seine Errettung große Gelübde zu leisten. "Ich
will tun, was du
möchtest, mein Sohn," erwiderte diese. "Nur befürchte ich, daß
ich nichts erreiche;
denn, mein Kind, ich hege Besorgnis und große Furcht. Nachdem du
nämlich all die
heiligen Haine verwüstetest und alle Altäre beschmutztest und
auch die Tempel nicht
verschontest, worum, willst du, soll ich jetzt bitten?"
Das sollen alle die hören, die Sünden begingen und, befleckt mit
ihren Sünden, die
heiligen Stätten betreten. Sie müssen vielmehr darauf sinnen und
trachten, daß ihre
bösen Taten getilgt werden.
Fab.24
Die Schwalbe und die
Vögel
Wer nicht auf guten Rat hört, wird einen schlechten finden, wie
die folgende Fabel beweist.
Einst waren einige Vögel versammelt, die bemerkten, wie ein Mann
Lein säte, und gaben
nicht viel darauf. Die Schwalbe aber sah tiefer, rief die
anderen Vögel zusammen und
machte sie darauf aufmerksam, daß das ihr Schaden sein werde.
Doch alle die
Zusammengerufenen gaben nichts darauf und lachten bloß. Als
später der Samen Frucht
zu tragen begann, sprach die Schwalbe wieder zu ihnen: "Das ist
etwas Schlimmes;
kommt, wir wollen es herausreißen! Denn sowie es ausgewachsen
ist, werden die
Menschen, geschickt wie sie sind, Netze daraus machen, mit denen
sie uns fangen
wollen." Alle jedoch lachten über die Worte der Schwalbe,
mißgebilligten und
verschmähten ihren Rat.
Als das die Schwalbe sah, begab sie sich zu den Menschen, um
unter deren Dächern
geschützt zu sein. Und weil die anderen Vögel ihren Rat nicht
hören wollten, und ihre
Mahnungen in den Wind schlugen, so geraten sie jetzt immer in
Netze.
Fab.25
Die Katze, die
Eule und die Maus
Die Eule bat die Katze, daß sie auf deren Rücken steigen dürfe,
und schlug vor, nach der
Spitzmaus zu suchen. Die Katze brachte die Eule zum Hause der
Maus. Da bat die Eule
die Katze, jene zu rufen. Und so geschah es. Als die Maus die
Stimme der Katze gehört
hatte, kam sie zur Haustür und fragte: "Was sucht ihr? Was habt
ihr zu sagen?"
Wir möchten sie sprechen," lautete die Antwort. Doch die Maus
erkannte, daß sie einen
bösen Plan gegen sie ausgeheckt hatten. "Verflucht seist du
Katze," rief sie daher, "du
meine Herrin, und die, welche auf dir sitzt, und eure Familien,
eure Söhne und Töchter
und eure ganze Verwandtschaft seien verflucht! Zur Unzeit wäret
ihr gekommen, und zur
Unzeit sollt ihr diesen Ort verlassen."
Die Geschichte geht auf Leute, die ihren Feinden kein gutes Wort
zu sagen vermögen,
die sich in Feindschaften verstricken und Böses unter sich
ausbrüten.
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