Fabelverzeichnis

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Fabeln 1
 
Der Hahn und die Perle
Die Hunde und die Gerberhaut
Der Wolf und das Lamm
Die Maus und der Frosch
Das verklagte Schaf
Der habgierige Hund
Die beiden Hähne und der Habicht
Der Löwenanteil
Die Schnecke und der Spiegel
Die Hochzeit der Sonne
Der Wolf und der Kranich
Die Hündin im Schweinestall
Die undankbare Schlange
Der Esel und der Eber
Die Landmaus und die Stadtmaus
Der Adler und die Füchsin
Der Adler und die Schildkröte
 
Der Kranich und die Krähe
Der Fuchs und der Rabe
Der kranke Löwe
Der zärtliche Esel
Der Löwe und die Maus
Der kranke Weih
Die Schwalbe und die Vögel
Die Katze, die Eule und die Maus

 


Quelle:
Sämtliche Fabeln der Antike
aus dem Griechischen und Lateinischen übersetzt/kommentiert und herausgegeben von ©Johannes Irmscher
©Anaconda Verlag/2006/Köln


Die Bilder sind von Thomas Bewick 1753 -1828, einem englischen Grafiker und Holzschneider.
 


Fab.1
Der Hahn und die Perle


Zuerst hat Äsop eine Fabel über sich selbst erzählt.

Ein Hahn, der auf einem Misthaufen seine Nahrung suchte, fand eine Perle, die an diesem
unwürdigen Orte lag. Als er ihrer gewahr wurde, sagte er: "Du bist eine wertvolle Sache
und liegst auf dem Mist! Hätte dich ein Habsüchtiger gefunden, mit welcher Freude würde
er dich an sich gerissen haben, um dich in den Glanz deiner einstigen Schönheit
zurückzuführen. Nun habe ich dich hier an diesem Ort gefunden und suche doch viel
mehr nach Nahrung. Ich kann dir nichts nützen und du mir nichts!"

Das erzählt Äsop denen, die ihn lesen und doch nicht begreifen.


Fab.2
Die Hunde und die Gerberhaut

Ein gegerbtes Fell erblickten Hunde in einem Flusse. Um es leichter herausholen zu
können, fingen sie an, das Wasser zu lecken. Dabei platzten sie und fanden den Tod,
ehe sie zu erreichen vermochten, was sie begehrt hatten.

Die Fabel zielt auf Leute, die aus unreifer Überlegung etwas in Angriff nehmen möchten,
was sie doch nicht schaffen können.

Fab.3
Der Wolf und das Lamm


Über einen Unschuldigen und einen Frevler erzählte Äsop die folgende Geschichte.


Das Lamm und der Wolf kamen durstig aus verschiedenen Richtungen zum Bach. Oben
trank der Wolf und viel weiter unten das Lamm. Kaum hatte der Wolf das Lamm erblickt,
brüllte er: "Du hast mir das Wasser, das ich trinken wollte, getrübt!" Das geduldige
Lamm erwiderte: "Wie könnte ich dir das Wasser trüben, das doch von dir zu mir
geflossen kommt?" Der Wolf indes errötete nicht, der Wahrheit zu widersprechen,
sondern sagte: "Du verleumdest mich." – "Ich habe dich nicht verleumdet", entgegnete
das Lamm. Darauf der Wolf: "Aber dein Vater war vor sechs Monaten hier, und der hat
es getan." – "Da soll ich bereits geboren gewesen sein?" antwortete das Lamm. Darauf
der Wolf mit seinem bösen Maule: "Was schwätzt du Räuber noch?" Und alsbald wandte
er sich gegen das Lamm und nahm dem unschuldigen Wesen das Leben.

Die Fabel ist für diejenigen erzählt, die ihren Mitmenschen übel mitspielen.

Fab.4
Der Frosch und die Maus

Wer sich über das Wohl eines andern Nachteiliges ausdenkt, entgeht seiner Strafe nicht.
Darüber hört die folgende Fabel.

Als die Maus einen Fluß überqueren wollte, bat sie den Frosch um Hilfe. Der verlangte
einen dicken Faden, band damit die Maus an seinem Fuße fest und fing an zu schwimmen.
In der Mitte des Flusses aber drehte der Frosch sich um, um der armen Maus das Leben
zu rauben. Während diese ihre Kräfte stärker anspannte, kam ihnen der Weih
entgegengeflogen, packte die Maus mit seinen Krallen und trug zugleich auch den Frosch,
der an ihr hing, davon.

So nämlich ergeht es denen, die sich über das Wohl eines andern Nachteiliges ausdenken.

Fab.5
Das verklagte Schaf

Auf heimtückische Leute zielt diese Fabel.
Die Heimtückischen denken sich nämlich immer gegen die Anständigen Lügen aus und
halten sich ihre gleichgesinnte Gruppe, ja kaufen sogar falsche Zeugen.
Auf die also ist die folgende Fabel gemünzt.

Ein hinterhältiger Hund behauptete, das Schaf sei ihm noch ein Brot schuldig, das er ihm
geliehen habe. Das Schaf erwiderte jedoch, es habe niemals von dem Hund Brot
erhalten. Als sie aber vor den Richter kamen, gab der Hund an, er verfüge über Zeugen.
Zur Aussage gerufen, sagte der Wolf: "Ich weiß, dem Schaf wurde Brot geliehen."
Der Weih, zur Aussage gerufen, stellte fest: "In meiner Gegenwart hat das Schaf Brot
erhalten." Als man den Habicht hereingeführt hatte, fragte er das Schaf: "Warum willst
du leugnen, was du bekommen hast?" Das so durch drei falsche Zeugen überführte Schaf
wurde hart bestraft. Den Nachrichten zufolge zwang man es nämlich, seine Wolle vor der
Zeit zu verkaufen, um zurückgeben zu können, was es nicht empfangen hatte.

So tun die heimtückischen Leute den Unschuldigen und Hilflosen Böses an.


Fab.6
Der habgierige Hund



Wer habsüchtig nach Fremdem giert, verliert das Eigene.
Von solchen Leuten handelt Äsops Fabel, wie folgt.

Ein Hund, der einen Fluß überqueren wollte, trug ein Stück Fleisch im Maule. Als er
dessen Schatten im Wasser gewahr wurde, öffnete er sein Maul, um auch danach zu
schnappen. Alsbald trug der Fluß das Stück, das er zuvor gehalten hatte, mit sich fort,
und jenes andere, das er im Wasser verborgen glaubte, konnte er nicht bekommen.

So verliert ein jeder, der Fremdes begehrt, während er doch mehr haben möchte,
noch sein Eigentum.

Fab.7
Die beiden Hähne und der Habicht

Ein Hahn lag mit einem andern Hahn immer wieder in Streit. Schließlich rief er den
Habicht als Unparteiischen an. Von dem Habicht aber hoffte er, daß dieser, wenn sie
beide vor ihm kämen, seinen Gegner, den er mitbringen würde, auffressen werde.
Als sie jedoch vor dem Richter kamen, um ihre Sache vorzutragen, packte der Habicht
gerade den zuerst, der ihn vorher um den Schiedsspruch gebeten hatte. Da schrie der
Hahn: "Nicht ich bin es, sondern der, welcher jetzt fliehen möchte!" Ihm erwiderte der
Habicht: "Glaub ja nicht, daß du heute aus meinen Klauen entkommst! Denn es ist nur
recht und billig, daß du selber ertragen mußt, was du dem anderen zudachtest."

Leute, die den Tod anderer betreiben, wissen nicht, was dabei für sie selber auf dem
Spiel steht.

Fab.8
Der Löwenanteil

Wenn der Mächtige mit dem Armen teile, ginge es niemals ordentlich zu, heißt es im
Sprichwort. Wollen wir sehen, was dazu die folgende Fabel allen Menschen zu erzählen
hat.

Die Kuh, die Ziege und das Schaf schlossen einmal mit dem Löwen Freundschaft. Als sie
nun im Gebirge auf Jagd gegangen waren, brachten sie einen Hirsch zur Strecke und
teilten ihn. Da sprach der Löwe: "Den ersten Teil erhalte ich, weil ich der Löwe bin; der
zweite gehört mir, weil ich so viel stärker bin als ihr. Den dritten aber nehme ich für
mich in Anspruch, weil ich mehr gelaufen bin als ihr, und wer endlich den vierten anrührt,
muß auf meine Feindschaft rechnen." So trug er dank seiner Unverschämtheit die ganze
Beute allein davon.

Die Fabel mahnt alle, sich nicht mit den Mächtigen einzulassen.


Fab.9
Die Schnecke und der Spiegel

Eine Schnecke fand einen Spiegel, und wie sie ihn so glänzen sah, verliebte sie sich in
ihn. Und sogleich zog sie sich über die Spiegelfläche hin und fing an, diese zu belecken.
Doch dabei kam nichts anderes heraus, als daß sie seinen Glanz durch Schleim und
Schmutz trübte. In solcher Verunreinigung fand der Affe den Spiegel und meinte:
"Wer sich solchen Leuten hingibt, der verdient kein anderes Los!"

Das geht auf Frauen, die sich mit dummen, nichtsnutzigen Männern verbinden.

Fab.10
Die Hochzeit der Sonne

Von seiner Natur kann keiner los, und aus dem Schlechten wird nur Schlimmeres geboren;
davon gibt die Fabel Zeugnis, wie folgt.

Leute, die in der Nachbarschaft eines Diebes wohnten, nahmen an dessen Hochzeitsfeier
teil. Da kam unser Weiser hinzu, und wie er die Nachbarn gratulieren sah, begann er
seine Erzählung.
"Vernehmt", sprach er, "eure Freuden! Der Sonnengott wollte sich eine Frau nehmen.
Da waren alle Leute dagegen und wandten sich mit lautem Geschrei vorwurfsvoll an
Jupiter. Das veranlaßte den Gott, danach zu fragen, was ihnen denn Böses geschehen
sei. Einer aus der Menge antwortete Jupiter: "Jetzt gibt es nur eine Sonne, und bereits
diese bringt mit ihrer Hitze alles in Unordnung, so daß die ganze Natur Mangel leidet.
Was aber wird aus uns werden, wenn der Sonnengott noch Söhne zeugt?"

Fab.11
Der Wolf und der Kranich

Wer dem Bösen eine Wohltat erweisen möchte, begeht einen großen Fehler.
Vernimm darüber eine ähnliche Geschichte.

Als der Wolf Knochen verzehrte, blieb ihm einer davon ganz quer im Halse stecken.
Da stellte er dem, der ihn von diesem Übel befreite, eine große Belohnung in Aussicht.
Angelegentlich wurde der Kranich gebeten, mit seinem langen Halse dem Wolfe Heilung
zu bringen, das heißt, seinen Kopf in den Wolfsrachen zu stecken und das Hindernis
herauszuholen. Als der Wolf wieder bei Gesundheit war, ersuchte der Kranich dessen
Unterhändler um Auszahlung der versprochenen Belohnung. Der Wolf aber, sagt man,
habe bloß geantwortet: "Dieser Kranich ist undankbar. Unversehrt und unbeschädigt
durch mein Gebiß hat er seinen Kopf herausgezogen und möchte dazu noch einen
Lohn sehen! Wie springt man mit meinen guten Eigenschaften um!"

Dieses Gleichnis ist eine Mahnung für jene, die den Bösen Gutes tun wollen.

Fab.12
Die Hündin im Schweinestall

Glatte Worte eines bösen Menschen bringen schweres Ungemach. Wie wir dem alle
entgehen können, mahnen uns die folgende Darlegung.

Eine Hündin, die gebären wollte, bat die Sau: "Laß mich in deinem Stall meinen Wurf
absetzen." Die Sau willfahrte der Bitte und ließ die Hündin hinein. Nachdem diese aber
geworfen hatte, bat sie darum, bis ihre Jungen widerstandsfähig wären, bleiben zu
können. Auch dieser Bitte wurde entsprochen. Nach geraumer Zeit jedoch wollte die Sau
ihr Quartier zurückhaben und nötigte die Hündin auszuziehen. Die aber sagte verärgert:
"Was belästigst du mich? Warum zeigst du dich mir so ungerecht? Bist du freilich stärker
als wir, so werde ich dir deinen Platz zurückgeben."

So verlieren die Guten ihr Eigentum, die anderen um glatter Worte willen glauben.


Fab.13
Die undankbare Schlange

Wer einem Bösen Hilfe bringt, muß wissen, daß er einen großen Fehler begeht,
und wenn er jenem Gutes getan hat, so muß er wissen, daß er durch ihn Schaden
erleidet. Darum laßt uns die folgende Fabel anhören.

Weil sie vor Frost und Kälte erstarrt war, nahm einer, um ein gutes Werk zu tun,
eine Schlange mit sich; die hielt er in seinen vier Wänden und ließ ihr den ganzen Winter
hindurch Gutes zuteil werden. Als sie aber mit der Zeit wieder zu Kräften kam, verhielt
sie sich höchst unpassend und verdarb viel mit ihrem Gift. Denn um nicht mit Dank
scheiden zu müssen, wollte sie als Frevlerin vertrieben werden.

Diese Fabel sollten die vielen beherzigen, die aus freien Stücken sich für undankbare
Leute hingeben, welche bei ihrem Abgang noch Schaden bringen möchten.

Fab.14
Der Esel und der Eber

Über die, welche zur Unzeit lachen, hat der weise Äsop die folgende Geschichte zum
besten gegeben.

Wenn manche Leute sich zum Gelächter machen, fügen sie einem andern Schaden zu
und tun sich selbst Böses an, so wie jener Esel, der dem Eber begegnete.
"Sei gegrüßt, Bruder", sprach er. Verdrossen schwieg der Eber, seinen Zorn verbergend,
und schüttelte das Haupt. "Das sei ferne", meinte er, "daß ich mit dummem Blut meine
Zähne beschmutze; denn ich muß diesen Kerl schmähsüchtig, wie er ist, oder aber in
Fetzen gerissen auf dem Platze lassen."

Die Fabel erinnert uns daran, daß wir den Schwachsinnigen Schonung angedeihen lassen,
uns aber gegen die Dummköpfe zur Wehr setzen müssen, die sich an ihnen Überlegenen
zu vergehen wagen.

Fab.15
Die Landmaus und die Stadtmaus



Daß es besser ist, sorgenfrei in Armut zu leben als im Reichtum von Ekel verzehrt zu
werden, wird durch die folgende kurze Geschichte unseres Autors bewiesen.

Die Stadtmaus machte sich auf die Reise und fand gastliche Aufnahme. Die Landmaus
bat sie nämlich, daß sie ihr in ihrer Hütte, so bescheiden sie auch sein mochte, Eicheln
und Korn vorsetzen dürfe. Bei ihrer Rückkehr lud darauf die Stadtmaus ihre Gevatterin
zum Mitkommen und zum Frühstück ein.
So geschah es, daß sie sich gemeinsam auf den Weg machten. Zusammen betraten sie
ein wohlhabendes Haus, wo ihrer ein Keller harrte, der mit allen guten Dingen angefüllt
war. Das zeigte die Stadtmaus der Landmaus und sprach: "Genieße mit mir, Freundin,
was uns alle Tage im Überfluß zur Verfügung steht."
Und während sie sich an den vielen Genüssen gütlich taten, kam der Kellermeister
angeeilt und schlug an die Kellertür. Durch den Lärm aufgeschreckt, suchten die Mäuse
auf verschiedenen Wegen zu entrinnen. Die Stadtmaus vermochte sich in den ihr
wohlbekannten Gängen rasch zu verbergen, die arme Landmaus dagegen bemühte sich
in ihrer Unerfahrenheit, über die Wände zu entkommen, und glaubte ihr letztes Stündlein
nahe. Sowie aber der Kellermeister hinausgegangen war und die Kellertür hinter sich
verschlossen hatte, wandte sich die Stadtmaus an die vom Lande:
"Warum hast du dich durch dein Davonlaufen so in Aufregung gebracht? Genießen wir,
Freundin, diese guten Sachen; du brauchst nichts zu scheuen und nichts zu fürchten."

Doch die Landmaus erwiderte: "Du sollst das alles genießen, weil du ja Angst und Furcht
nicht kennst und dir die tägliche Aufregung nichts ausmacht. Ich dagegen lebe
bescheiden auf dem Lande, wo ich immer fröhlich sein kann, kein Schrecken mich stört
und keine Unruhe. Du nämlich lebst in ständiger Aufregung, es gibt für dich keine
Sättigung, und am Ende wirst du in der Mausefalle sitzen, die Katze wird dich fangen und
auffressen."

Diese Fabel schilt diejenigen, die sich mit Bessergestellten verbinden, um irgendwelche
guten Dinge genießen zu können, die ihnen das Schicksal versagt hat. Die Leute sollten
jedoch das einfache Leben lieben und dann sorgenfrei in ihren Behausungen leben.

Fab.16
Der Adler und die Füchsin

Die Mächtigen müssen die Schwachen fürchten, wie diese Fabel bezeugt.

Einst packte der Adler die Jungen der Füchsin und brachte sie in sein Nest, um sie seinen
Sprößlingen als Futter darzubieten. Die Füchsin verfolgte den Adler und bat ihn
inständig, ihr ihre Jungen zurückzugeben. Doch der Adler mißachtete die Füchsin als
ihm unterlegen. Schmerzerfüllt nahm sich da die Füchsin von einem Altar Feuer in
Gestalt einer brennenden Fackel und häufte Stroh um den Baum herum.
Als nun Rauch und Flamme sich ausbreiteten, erfaßte den Adler qualvolle Sorge um
seine eigene Brut, daß sie in den Flammen dem Tod finden könnte, und er brachte die
jungen Füchslein der flehentlich bittenden Mutter unversehrt zurück.

Die Fabel ist eine Lehre für viele, daß man an den Schwachen nicht sein Mütchen kühlen
und sich nicht von irgendeiner Flamme verbrennen lassen soll.

Fab.17
Der Adler und die Schildkröte

Wer beschützt und gesichert ist, kann von einem schlechten Ratgeber zu Fall gebracht
werden. Unser Erzähler berichtet darüber, wie folgt:

Der Adler packte die Schildkröte und flog mit ihr durch die Lüfte. Die Schildkröte zog sich
zusammen und war von keiner Seite zu fassen. Da kam ihm die Krähe entgegengeflogen
und machte dem Adler schöne Worte: "Du trägst eine vortreffliche Beute", sagte sie.
"Doch ich will dir einen Kniff verraten; denn grundlos schleppst du dich an einer Last,
zu der deine Kräfte nicht ausreichen werden." Der Adler versprach einen Teil der Beute,
da gab die Krähe ihren Rat: "Bis zu den Sternen mußt du fliegen, dort, wo unten
steiniger Boden ist. Dort, schlage ich vor, läßt du die Beute von oben herunterfallen,
so daß die Hornschalen zerbrechen und wir das Fleisch als Futter nutzen können."

Das habe der Adler getan, und die Schildkröte, welche ihre Natur geschützt hatte,
verlor durch den bösen Rat das Leben.


Fab.18
Der Kranich und die Krähe

Der Kranich und die Krähe hatten sich miteinander verbündet und beschlossen, daß der
Kranich die Krähe gegen die andern Vögel schützen und die Krähe dem Kranich über zu
erwartende Geschehnisse berichten sollte.

Als nun die Beiden des öfteren einen Acker aufsuchten und das Getreide, das dort einmal
gesät worden war, bis zur Wurzel abzupften, sah das der Besitzer des Ackers mit
Schmerzen und sprach zu seinem Buben: "Gib mir einen Stein!" Das signalisierte die
Krähe dem Kranich, und sie verhielten sich vorsichtig. Als die Krähe auch am nächsten
Tage hörte, daß der Stein verlangt wurde, warnte sie aufs neue den Kranich vor bösen
Folgen. Da wurde jenem Manne klar, daß die Krähe Warnungen gab, und er sagte zu
seinem Buben: "Wenn ich sage: >Gib mir einen Bissen!< dann reichst du mir einen
Stein." So geschah's, der Mann bat den Buben um einen Bissen, der aber reichte ihm
den Stein, welcher den Kranich traf und ihm die Schenkel zerschmetterte. Da sprach der
Verwundete die Krähe an: "Wo sind deine göttlichen Weissagungen? Warum hast du mich
nicht gewarnt, daß mir das passieren könnte?" Doch die Krähe antwortete: "Nicht meine
Intelligenz trägt hierbei die Schuld, leidbringend sind vielmehr die Ratschläge all der bösen
Leute, die etwas anderes tun, als sie sagen."

Die Fabel geht auf Leute, die durch Versprechungen Unschuldige verleiten, denen sie
später ohne Zögern Schaden zufügen.

Fab.19
Der Fuchs und der Rabe



Wer sich mit hinterhältigen Worten loben läßt, hat es zu bereuen, wenn er betrogen
wird. Auf solche Leute paßt diese Fabel.

Der Rabe stahl aus einem Fenster einen Käse und ließ sich auf einem Baumwipfel nieder.
Als dessen der Fuchs gewahr wurde, rief er den Raben an: "O Rabe, wer möchte dir
gleichkommen? Wie prachtvoll ist der Glanz deiner Federn! Und welchen Schmuck würde
es für dich bedeuten, wenn du eine helle Stimme hättest; kein andrer Vogel könnte dir
überlegen sein." Der Rabe aber wollte sich dem Fuchs gefällig zeigen und seine Stimme
zu Gehör bringen; also begann er laut hoch droben zu krächzen, dabei vergaß er den
Käse, der ihm, als er den Schnabel öffnete, entfiel. Der hinterlistige Fuchs dagegen
schnappte voller Gier danach. Da seufzte der Rabe, denn es reute ihn, daß er sich so
dumm hatte hinters Licht führen lassen.

Doch was hilft die Reue, wenn, was geschah, nicht mehr zu ändern ist?

Fab.20
Der kranke Löwe

Wer seine Stellung verliert, sollte auch sein früheres Auftreten preisgeben, um nicht von
jedem x-beliebigen Unrecht erdulden zu müssen, wie die folgende Fabel beweist.

Altersschwach und abgezehrt lag der Löwe schwer leidend vor seiner Höhle und harrte
seines letzten Stündleins. Da trat der Eber mit seinen scharfen Zähnen zu ihm und nahm
wutschnaubend Rache für einen früheren Schlag. Der Stier stieß seine Hörner in den Leib
seines Feindes, des Löwen. Als dessen der Esel gewahr wurde, trat er ihm mit seinen
Hufen ins Gesicht. Da sprach der Löwe mit Seufzen und Stöhnen: "Als ich bei Kräften
war, da stand ich in Ansehen und erweckte Furcht, daß alle meinen Anblick mieden und
manche sogar vor meinem Namen erschraken. Und selbst die, denen ich aus Wohlwollen
nichts antat, denen ich sogar zum Helfer wurde, mißhandeln mich heute. Weil ich eben
kraftlos bin, ist es mit meiner früheren Geltung dahin."

Diese Fabel ist eine Warnung für viele, die sich daran gewöhnt haben, in Geltung zu stehen.

Fab.21
Der zärtliche Esel

Wer keine Reverenz zu erweisen hat, der sollte sich nicht den Höhergestellten aufdrängen.
Darüber hat der Dichter die folgende Fabel erzählt.

Der Esel sah, wie das Hündchen täglich seinem Herrn schmeichelte, sich von seinem
Tische nährte und von den Angehörigen des Herrn viele Geschenke erhielt. Da hat
sich der Esel gesagt: "Wenn mein Herr und seine ganze Familie ein so schmutziges Tier
derart lieben, um wieviel höher müßten sie mich dann schätzen, wenn ich ihnen
meine Reverenz erweise? Denn ich bin doch etwas sehr viel Besseres als der Hund,
weil ich zu vielen Sachen nützlich bin. Ich nähre mich von Wasser aus geweihten Quellen,
und saubere Speise wird mir dargeboten; ich könnte jedoch noch ein besseres Leben
haben und größere Achtung genießen."

Während der Esel das bei sich erwog, bemerkte er, daß sein Herr eintrat. Eilig lief er zu
ihm hin, iahend sprang er an ihm hoch, trat zu ihm und legte die erhobenen Vorderfüße
auf beide Schultern des Herrn; dabei beleckte er ihn mit der Zunge, beschmutzte ihm
den Rock und wurde ihm durch sein Gewicht lästig. Das Geschrei des Herrn rief dessen
Angehörige herbei; die griffen zu Knüppeln und Steinen, fallen über den Esel her,
schlagen ihm zum Krüppel und treiben ihn mit gebrochenen Gliedern und Rippen zu
seiner Krippe zurück, halbtot und entkräftet.

Die Fabel mahnt, daß kein Unwürdiger sich vordrängen soll, um die Funktion eines
Höherstehenden wahrzunehmen.


Fab.22
Der Löwe und die Maus

Begeht der Schwache einen Fehler, so muß er, wenn er darum bittet, Verzeihung
erlangen, damit nicht eine Lage eintreten kann, wo er Rache zu üben vermag.
Vernehmen wir die Fabel, die für uns auf diese Situation hin abgefaßt ist.

Als der Löwe im Walde schlief, gerieten die Feldmäuse außer Rand und Band, und eine
von ihnen stieg unfreiwillig über den Löwen. Dadurch aufgeweckt, schlug der Löwe
blitzschnell nach der armen Maus und packte sie. Die bat flehentlich um Gnade, denn sie
habe ja nicht in böser Absicht gehandelt. Ihr Vergehen begründend, gestand sie
demütig, daß auch die andern herumgetollt seien und sie allein von ihnen die Schuld auf
sich geladen habe. Der Löwe aber bedachte bei sich, ob es in dieser Sache Vergeltung
bedeute, wenn er die arme Maus töte; Ruhm würde es ihm bestimmt nicht einbringen,
allenfalls Tadel. Darum verzieh er ihr und ließ sie laufen.

Wenige Tage später geriet der Löwe in eine Grube. Als er sich gefangen sah, fing er ein
gewaltiges Gebrüll an und brachte laut seinen Schmerz zum Ausdruck. Kaum hatte das
die Maus bemerkt, lief sie herbei und fragte den Löwen, was ihm denn Schlimmes
passiert sei. Und nachdem sie erfuhr, daß er gefangen sei, sprach sie: "Es besteht keine
Veranlassung, daß du dich ängstigst; denn ich werde mich dir in gleicher Weise gefällig
zeigen, da ich mich sehr wohl deiner Großmut erinnere." So sprach sie und sah sich
genau alle seine Stricke an. Nachdem sie die Stellen, die sie annagen mußte, gefunden
hatte, nahm sie mit ihrem Schnäuzchen die Arbeit auf, trennte nach und nach mit ihren
Zähnen die Schnüre und lockerte die kunstvollen Fesseln. So gab die Maus den
gefangenen Löwen in Freiheit seinen Wäldern zurück.

Es mahnt die Fabel, auch den ganz Kleinen kein Leid zu tun.

Fab.23
Der kranke Weih

Was soll, wer immer lästert, in der Bedrängnis erbitten? Wollen wir sehen, was für eine
Fabel unser Autor dazu zu erzählen weiß.

Als der Weih krank war und schon viele Monate darniederlag und für sein Leben schon
keine Hoffnung mehr sah, bat er seine Mutter unter Tränen, die heiligen Stätten zu
besuchen und für seine Errettung große Gelübde zu leisten. "Ich will tun, was du
möchtest, mein Sohn," erwiderte diese. "Nur befürchte ich, daß ich nichts erreiche;
denn, mein Kind, ich hege Besorgnis und große Furcht. Nachdem du nämlich all die
heiligen Haine verwüstetest und alle Altäre beschmutztest und auch die Tempel nicht
verschontest, worum, willst du, soll ich jetzt bitten?"

Das sollen alle die hören, die Sünden begingen und, befleckt mit ihren Sünden, die
heiligen Stätten betreten. Sie müssen vielmehr darauf sinnen und trachten, daß ihre
bösen Taten getilgt werden.

Fab.24
Die Schwalbe und die Vögel

Wer nicht auf guten Rat hört, wird einen schlechten finden, wie die folgende Fabel beweist.

Einst waren einige Vögel versammelt, die bemerkten, wie ein Mann Lein säte, und gaben
nicht viel darauf. Die Schwalbe aber sah tiefer, rief die anderen Vögel zusammen und
machte sie darauf aufmerksam, daß das ihr Schaden sein werde. Doch alle die
Zusammengerufenen gaben nichts darauf und lachten bloß. Als später der Samen Frucht
zu tragen begann, sprach die Schwalbe wieder zu ihnen: "Das ist etwas Schlimmes;
kommt, wir wollen es herausreißen! Denn sowie es ausgewachsen ist, werden die
Menschen, geschickt wie sie sind, Netze daraus machen, mit denen sie uns fangen
wollen." Alle jedoch lachten über die Worte der Schwalbe, mißgebilligten und
verschmähten ihren Rat.
Als das die Schwalbe sah, begab sie sich zu den Menschen, um unter deren Dächern
geschützt zu sein. Und weil die anderen Vögel ihren Rat nicht hören wollten, und ihre
Mahnungen in den Wind schlugen, so geraten sie jetzt immer in Netze.

Fab.25
Die Katze, die Eule und die Maus

Die Eule bat die Katze, daß sie auf deren Rücken steigen dürfe, und schlug vor, nach der
Spitzmaus zu suchen. Die Katze brachte die Eule zum Hause der Maus. Da bat die Eule
die Katze, jene zu rufen. Und  so geschah es. Als die Maus die Stimme der Katze gehört
hatte, kam sie zur Haustür und fragte: "Was sucht ihr? Was habt ihr zu sagen?"
Wir möchten sie sprechen," lautete die Antwort. Doch die Maus erkannte, daß sie einen
bösen Plan gegen sie ausgeheckt hatten. "Verflucht seist du Katze," rief sie daher, "du
meine Herrin, und die, welche auf dir sitzt, und eure Familien, eure Söhne und Töchter
und eure ganze Verwandtschaft seien verflucht! Zur Unzeit wäret ihr gekommen, und zur
Unzeit sollt ihr diesen Ort verlassen."

Die Geschichte geht auf Leute, die ihren Feinden kein gutes Wort zu sagen vermögen,
die sich in Feindschaften verstricken und Böses unter sich ausbrüten.