Fab.1 
				
				Der Hahn und die Perle 
				 
				  
				
				
				Zuerst hat Äsop eine Fabel über sich selbst erzählt. 
				 
				Ein Hahn, der auf einem Misthaufen seine Nahrung suchte, fand 
				eine Perle, die an diesem 
				unwürdigen Orte lag. Als er ihrer gewahr wurde, sagte er: "Du 
				bist eine wertvolle Sache 
				und liegst auf dem Mist! Hätte dich ein Habsüchtiger gefunden, 
				mit welcher Freude würde 
				er dich an sich gerissen haben, um dich in den Glanz deiner 
				einstigen Schönheit 
				zurückzuführen. Nun habe ich dich hier an diesem Ort gefunden 
				und suche doch viel 
				mehr nach Nahrung. Ich kann dir nichts nützen und du mir 
				nichts!" 
				 
				Das erzählt Äsop denen, die ihn lesen und doch nicht begreifen. 
				 
				
				
				Fab.2 
				Die Hunde und die Gerberhaut 
				 
				Ein gegerbtes Fell erblickten Hunde in einem Flusse. Um es 
				leichter herausholen zu 
				können, fingen sie an, das Wasser zu lecken. Dabei platzten sie 
				und fanden den Tod, 
				ehe sie zu erreichen vermochten, was sie begehrt hatten. 
				 
				Die Fabel zielt auf Leute, die aus unreifer Überlegung etwas in 
				Angriff nehmen möchten, 
				was sie doch nicht schaffen können. 
				 
				Fab.3 
				Der Wolf und das Lamm 
				 
				  
				Über einen Unschuldigen und einen Frevler erzählte Äsop die 
				folgende Geschichte. 
				 
				
				
				Das Lamm und der Wolf kamen durstig aus verschiedenen Richtungen 
				zum Bach. Oben 
				trank der Wolf und viel weiter unten das Lamm. Kaum hatte der 
				Wolf das Lamm erblickt, 
				brüllte er: "Du hast mir das Wasser, das ich trinken wollte, 
				getrübt!" Das geduldige 
				Lamm erwiderte: "Wie könnte ich dir das Wasser trüben, das doch 
				von dir zu mir 
				geflossen kommt?" Der Wolf indes errötete nicht, der Wahrheit zu 
				widersprechen, 
				sondern sagte: "Du verleumdest mich." – "Ich habe dich nicht 
				verleumdet", entgegnete 
				das Lamm. Darauf der Wolf: "Aber dein Vater war vor sechs 
				Monaten hier, und der hat 
				es getan." – "Da soll ich bereits geboren gewesen sein?" 
				antwortete das Lamm. Darauf 
				der Wolf mit seinem bösen Maule: "Was schwätzt du Räuber noch?" 
				Und alsbald wandte 
				er sich gegen das Lamm und nahm dem unschuldigen Wesen das 
				Leben. 
				 
				Die Fabel ist für diejenigen erzählt, die ihren Mitmenschen übel 
				mitspielen. 
				 
				Fab.4 
				Der Frosch und die Maus 
				 
				Wer sich über das Wohl eines andern Nachteiliges ausdenkt, 
				entgeht seiner Strafe nicht. 
				Darüber hört die folgende Fabel. 
				 
				Als die Maus einen Fluß überqueren wollte, bat sie den Frosch um 
				Hilfe. Der verlangte 
				einen dicken Faden, band damit die Maus an seinem Fuße fest und 
				fing an zu schwimmen. 
				In der Mitte des Flusses aber drehte der Frosch sich um, um der 
				armen Maus das Leben 
				zu rauben. Während diese ihre Kräfte stärker anspannte, kam 
				ihnen der Weih 
				entgegengeflogen, packte die Maus mit seinen Krallen und trug 
				zugleich auch den Frosch, 
				der an ihr hing, davon. 
				 
				So nämlich ergeht es denen, die sich über das Wohl eines andern 
				Nachteiliges ausdenken. 
				 
				Fab.5 
				Das 
				verklagte Schaf 
				 
				Auf heimtückische Leute zielt diese Fabel. 
				Die Heimtückischen denken sich nämlich immer gegen die 
				Anständigen Lügen aus und 
				halten sich ihre gleichgesinnte Gruppe, ja kaufen sogar falsche 
				Zeugen. 
				Auf die also ist die folgende Fabel gemünzt. 
				 
				Ein hinterhältiger Hund behauptete, das Schaf sei ihm noch ein 
				Brot schuldig, das er ihm 
				geliehen habe. Das Schaf erwiderte jedoch, es habe niemals von 
				dem Hund Brot 
				erhalten. Als sie aber vor den Richter kamen, gab der Hund an, 
				er verfüge über Zeugen. 
				Zur Aussage gerufen, sagte der Wolf: "Ich weiß, dem Schaf wurde 
				Brot geliehen." 
				Der Weih, zur Aussage gerufen, stellte fest: "In meiner 
				Gegenwart hat das Schaf Brot 
				erhalten." Als man den Habicht hereingeführt hatte, fragte er 
				das Schaf: "Warum willst 
				du leugnen, was du bekommen hast?" Das so durch drei falsche 
				Zeugen überführte Schaf 
				wurde hart bestraft. Den Nachrichten zufolge zwang man es 
				nämlich, seine Wolle vor der 
				Zeit zu verkaufen, um zurückgeben zu können, was es nicht 
				empfangen hatte. 
				 
				So tun die heimtückischen Leute den Unschuldigen und Hilflosen 
				Böses an. 
				 
				
				
				Fab.6 
				Der habgierige Hund 
				 
				  
				
				
				Wer habsüchtig nach Fremdem giert, verliert das Eigene. 
				Von solchen Leuten handelt Äsops Fabel, wie folgt. 
				 
				Ein Hund, der einen Fluß überqueren wollte, trug ein Stück 
				Fleisch im Maule. Als er 
				dessen Schatten im Wasser gewahr wurde, öffnete er sein Maul, um 
				auch danach zu 
				schnappen. Alsbald trug der Fluß das Stück, das er zuvor 
				gehalten hatte, mit sich fort, 
				und jenes andere, das er im Wasser verborgen glaubte, konnte er 
				nicht bekommen. 
				 
				So verliert ein jeder, der Fremdes begehrt, während er doch mehr 
				haben möchte, 
				noch sein Eigentum. 
				 
				Fab.7 
				Die beiden Hähne und der 
				Habicht 
				 
				Ein Hahn lag mit einem andern Hahn immer wieder in Streit. 
				Schließlich rief er den 
				Habicht als Unparteiischen an. Von dem Habicht aber hoffte er, 
				daß dieser, wenn sie 
				beide vor ihm kämen, seinen Gegner, den er mitbringen würde, 
				auffressen werde. 
				Als sie jedoch vor dem Richter kamen, um ihre Sache vorzutragen, 
				packte der Habicht 
				gerade den zuerst, der ihn vorher um den Schiedsspruch gebeten 
				hatte. Da schrie der 
				Hahn: "Nicht ich bin es, sondern der, welcher jetzt fliehen 
				möchte!" Ihm erwiderte der 
				Habicht: "Glaub ja nicht, daß du heute aus meinen Klauen 
				entkommst! Denn es ist nur 
				recht und billig, daß du selber ertragen mußt, was du dem 
				anderen zudachtest." 
				 
				Leute, die den Tod anderer betreiben, wissen nicht, was dabei 
				für sie selber auf dem 
				Spiel steht. 
				 
				Fab.8 
				Der Löwenanteil 
				 
				Wenn der Mächtige mit dem Armen teile, ginge es niemals 
				ordentlich zu, heißt es im 
				Sprichwort. Wollen wir sehen, was dazu die folgende Fabel allen 
				Menschen zu erzählen 
				hat. 
				 
				Die Kuh, die Ziege und das Schaf schlossen einmal mit dem Löwen 
				Freundschaft. Als sie 
				nun im Gebirge auf Jagd gegangen waren, brachten sie einen 
				Hirsch zur Strecke und 
				teilten ihn. Da sprach der Löwe: "Den ersten Teil erhalte ich, 
				weil ich der Löwe bin; der 
				zweite gehört mir, weil ich so viel stärker bin als ihr. Den 
				dritten aber nehme ich für 
				mich in Anspruch, weil ich mehr gelaufen bin als ihr, und wer 
				endlich den vierten anrührt, 
				muß auf meine Feindschaft rechnen." So trug er dank seiner 
				Unverschämtheit die ganze 
				Beute allein davon. 
				 
				Die Fabel mahnt alle, sich nicht mit den Mächtigen einzulassen. 
				 
				
				
				Fab.9 
				
				Die Schnecke und der 
				Spiegel 
				 
				Eine Schnecke fand einen Spiegel, und wie sie ihn so glänzen 
				sah, verliebte sie sich in 
				ihn. Und sogleich zog sie sich über die Spiegelfläche hin und 
				fing an, diese zu belecken. 
				Doch dabei kam nichts anderes heraus, als daß sie seinen Glanz 
				durch Schleim und 
				Schmutz trübte. In solcher Verunreinigung fand der Affe den 
				Spiegel und meinte: 
				"Wer sich solchen Leuten hingibt, der verdient kein anderes 
				Los!" 
				 
				Das geht auf Frauen, die sich mit dummen, nichtsnutzigen Männern 
				verbinden. 
				 
				Fab.10 
				Die Hochzeit der Sonne 
				 
				Von seiner Natur kann keiner los, und aus dem Schlechten wird 
				nur Schlimmeres geboren; 
				davon gibt die Fabel Zeugnis, wie folgt. 
				 
				Leute, die in der Nachbarschaft eines Diebes wohnten, nahmen an 
				dessen Hochzeitsfeier 
				teil. Da kam unser Weiser hinzu, und wie er die Nachbarn 
				gratulieren sah, begann er 
				seine Erzählung. 
				"Vernehmt", sprach er, "eure Freuden! Der Sonnengott wollte sich 
				eine Frau nehmen. 
				Da waren alle Leute dagegen und wandten sich mit lautem Geschrei 
				vorwurfsvoll an 
				Jupiter. Das veranlaßte den Gott, danach zu fragen, was ihnen 
				denn Böses geschehen 
				sei. Einer aus der Menge antwortete Jupiter: "Jetzt gibt es nur 
				eine Sonne, und bereits 
				diese bringt mit ihrer Hitze alles in Unordnung, so daß die 
				ganze Natur Mangel leidet. 
				Was aber wird aus uns werden, wenn der Sonnengott noch Söhne 
				zeugt?" 
				 
				Fab.11 
				Der Wolf und der Kranich 
				 
				Wer dem Bösen eine Wohltat erweisen möchte, begeht einen großen 
				Fehler. 
				Vernimm darüber eine ähnliche Geschichte. 
				 
				Als der Wolf Knochen verzehrte, blieb ihm einer davon ganz quer 
				im Halse stecken. 
				Da stellte er dem, der ihn von diesem Übel befreite, eine große 
				Belohnung in Aussicht. 
				Angelegentlich wurde der Kranich gebeten, mit seinem langen 
				Halse dem Wolfe Heilung 
				zu bringen, das heißt, seinen Kopf in den Wolfsrachen zu stecken 
				und das Hindernis 
				herauszuholen. Als der Wolf wieder bei Gesundheit war, ersuchte 
				der Kranich dessen 
				Unterhändler um Auszahlung der versprochenen Belohnung. Der Wolf 
				aber, sagt man, 
				habe bloß geantwortet: "Dieser Kranich ist undankbar. Unversehrt 
				und unbeschädigt 
				durch mein Gebiß hat er seinen Kopf herausgezogen und möchte 
				dazu noch einen 
				Lohn sehen! Wie springt man mit meinen guten Eigenschaften um!" 
				 
				Dieses Gleichnis ist eine Mahnung für jene, die den Bösen Gutes 
				tun wollen. 
				 
				Fab.12 
				Die Hündin im 
				Schweinestall 
				 
				Glatte Worte eines bösen Menschen bringen schweres Ungemach. Wie 
				wir dem alle 
				entgehen können, mahnen uns die folgende Darlegung. 
				 
				Eine Hündin, die gebären wollte, bat die Sau: "Laß mich in 
				deinem Stall meinen Wurf 
				absetzen." Die Sau willfahrte der Bitte und ließ die Hündin 
				hinein. Nachdem diese aber 
				geworfen hatte, bat sie darum, bis ihre Jungen widerstandsfähig 
				wären, bleiben zu 
				können. Auch dieser Bitte wurde entsprochen. Nach geraumer Zeit 
				jedoch wollte die Sau 
				ihr Quartier zurückhaben und nötigte die Hündin auszuziehen. Die 
				aber sagte verärgert: 
				"Was belästigst du mich? Warum zeigst du dich mir so ungerecht? 
				Bist du freilich stärker 
				als wir, so werde ich dir deinen Platz zurückgeben." 
				 
				So verlieren die Guten ihr Eigentum, die anderen um glatter 
				Worte willen glauben. 
				 
				
				
				Fab.13 
				Die undankbare Schlange 
				 
				Wer einem Bösen Hilfe bringt, muß wissen, daß er einen großen 
				Fehler begeht, 
				und wenn er jenem Gutes getan hat, so muß er wissen, daß er 
				durch ihn Schaden 
				erleidet. Darum laßt uns die folgende Fabel anhören. 
				 
				Weil sie vor Frost und Kälte erstarrt war, nahm einer, um ein 
				gutes Werk zu tun, 
				eine Schlange mit sich; die hielt er in seinen vier Wänden und 
				ließ ihr den ganzen Winter 
				hindurch Gutes zuteil werden. Als sie aber mit der Zeit wieder 
				zu Kräften kam, verhielt 
				sie sich höchst unpassend und verdarb viel mit ihrem Gift. Denn 
				um nicht mit Dank 
				scheiden zu müssen, wollte sie als Frevlerin vertrieben werden. 
				 
				Diese Fabel sollten die vielen beherzigen, die aus freien 
				Stücken sich für undankbare 
				Leute hingeben, welche bei ihrem Abgang noch Schaden bringen 
				möchten. 
				 
				Fab.14 
				Der 
				Esel und der Eber 
				 
				Über die, welche zur Unzeit lachen, hat der weise Äsop die 
				folgende Geschichte zum 
				besten gegeben. 
				 
				Wenn manche Leute sich zum Gelächter machen, fügen sie einem 
				andern Schaden zu 
				und tun sich selbst Böses an, so wie jener Esel, der dem Eber 
				begegnete. 
				"Sei gegrüßt, Bruder", sprach er. Verdrossen schwieg der Eber, 
				seinen Zorn verbergend, 
				und schüttelte das Haupt. "Das sei ferne", meinte er, "daß ich 
				mit dummem Blut meine 
				Zähne beschmutze; denn ich muß diesen Kerl schmähsüchtig, wie er 
				ist, oder aber in 
				Fetzen gerissen auf dem Platze lassen." 
				 
				Die Fabel erinnert uns daran, daß wir den Schwachsinnigen 
				Schonung angedeihen lassen, 
				uns aber gegen die Dummköpfe zur Wehr setzen müssen, die sich an 
				ihnen Überlegenen 
				zu vergehen wagen. 
				 
				Fab.15 
				
				Die Landmaus und die 
				Stadtmaus 
				 
				  
				
				
				Daß es besser ist, sorgenfrei in Armut zu leben als im Reichtum 
				von Ekel verzehrt zu 
				werden, wird durch die folgende kurze Geschichte unseres Autors 
				bewiesen. 
				 
				Die Stadtmaus machte sich auf die Reise und fand gastliche 
				Aufnahme. Die Landmaus 
				bat sie nämlich, daß sie ihr in ihrer Hütte, so bescheiden sie 
				auch sein mochte, Eicheln 
				und Korn vorsetzen dürfe. Bei ihrer Rückkehr lud darauf die 
				Stadtmaus ihre Gevatterin 
				zum Mitkommen und zum Frühstück ein. 
				So geschah es, daß sie sich gemeinsam auf den Weg machten. 
				Zusammen betraten sie 
				ein wohlhabendes Haus, wo ihrer ein Keller harrte, der mit allen 
				guten Dingen angefüllt 
				war. Das zeigte die Stadtmaus der Landmaus und sprach: "Genieße 
				mit mir, Freundin, 
				was uns alle Tage im Überfluß zur Verfügung steht." 
				Und während sie sich an den vielen Genüssen gütlich taten, kam 
				der Kellermeister 
				angeeilt und schlug an die Kellertür. Durch den Lärm 
				aufgeschreckt, suchten die Mäuse 
				auf verschiedenen Wegen zu entrinnen. Die Stadtmaus vermochte 
				sich in den ihr 
				wohlbekannten Gängen rasch zu verbergen, die arme Landmaus 
				dagegen bemühte sich 
				in ihrer Unerfahrenheit, über die Wände zu entkommen, und 
				glaubte ihr letztes Stündlein 
				nahe. Sowie aber der Kellermeister hinausgegangen war und die 
				Kellertür hinter sich 
				verschlossen hatte, wandte sich die Stadtmaus an die vom Lande: 
				"Warum hast du dich durch dein Davonlaufen so in Aufregung 
				gebracht? Genießen wir, 
				Freundin, diese guten Sachen; du brauchst nichts zu scheuen und 
				nichts zu fürchten." 
				 
				Doch die Landmaus erwiderte: "Du sollst das alles genießen, weil 
				du ja Angst und Furcht 
				nicht kennst und dir die tägliche Aufregung nichts ausmacht. Ich 
				dagegen lebe 
				bescheiden auf dem Lande, wo ich immer fröhlich sein kann, kein 
				Schrecken mich stört 
				und keine Unruhe. Du nämlich lebst in ständiger Aufregung, es 
				gibt für dich keine 
				Sättigung, und am Ende wirst du in der Mausefalle sitzen, die 
				Katze wird dich fangen und 
				auffressen." 
				 
				Diese Fabel schilt diejenigen, die sich mit Bessergestellten 
				verbinden, um irgendwelche 
				guten Dinge genießen zu können, die ihnen das Schicksal versagt 
				hat. Die Leute sollten 
				jedoch das einfache Leben lieben und dann sorgenfrei in ihren 
				Behausungen leben. 
				 
				Fab.16 
				
				Der Adler und die Füchsin 
				 
				Die Mächtigen müssen die Schwachen fürchten, wie diese Fabel 
				bezeugt. 
				 
				Einst packte der Adler die Jungen der Füchsin und brachte sie in 
				sein Nest, um sie seinen 
				Sprößlingen als Futter darzubieten. Die Füchsin verfolgte den 
				Adler und bat ihn 
				inständig, ihr ihre Jungen zurückzugeben. Doch der Adler 
				mißachtete die Füchsin als 
				ihm unterlegen. Schmerzerfüllt nahm sich da die Füchsin von 
				einem Altar Feuer in 
				Gestalt einer brennenden Fackel und häufte Stroh um den Baum 
				herum. 
				Als nun Rauch und Flamme sich ausbreiteten, erfaßte den Adler 
				qualvolle Sorge um 
				seine eigene Brut, daß sie in den Flammen dem Tod finden könnte, 
				und er brachte die 
				jungen Füchslein der flehentlich bittenden Mutter unversehrt 
				zurück. 
				 
				Die Fabel ist eine Lehre für viele, daß man an den Schwachen 
				nicht sein Mütchen kühlen 
				und sich nicht von irgendeiner Flamme verbrennen lassen soll. 
				 
				Fab.17 
				
				Der Adler und die 
				Schildkröte 
				 
				Wer beschützt und gesichert ist, kann von einem schlechten 
				Ratgeber zu Fall gebracht 
				werden. Unser Erzähler berichtet darüber, wie folgt: 
				 
				Der Adler packte die Schildkröte und flog mit ihr durch die 
				Lüfte. Die Schildkröte zog sich 
				zusammen und war von keiner Seite zu fassen. Da kam ihm die 
				Krähe entgegengeflogen 
				und machte dem Adler schöne Worte: "Du trägst eine vortreffliche 
				Beute", sagte sie. 
				"Doch ich will dir einen Kniff verraten; denn grundlos schleppst 
				du dich an einer Last, 
				zu der deine Kräfte nicht ausreichen werden." Der Adler 
				versprach einen Teil der Beute, 
				da gab die Krähe ihren Rat: "Bis zu den Sternen mußt du fliegen, 
				dort, wo unten 
				steiniger Boden ist. Dort, schlage ich vor, läßt du die Beute 
				von oben herunterfallen, 
				so daß die Hornschalen zerbrechen und wir das Fleisch als Futter 
				nutzen können." 
				 
				Das habe der Adler getan, und die Schildkröte, welche ihre Natur 
				geschützt hatte, 
				verlor durch den bösen Rat das Leben. 
				 
				
				
				Fab.18 
				Der Kranich und die Krähe 
				 
				Der Kranich und die Krähe hatten sich miteinander verbündet und 
				beschlossen, daß der 
				Kranich die Krähe gegen die andern Vögel schützen und die Krähe 
				dem Kranich über zu 
				erwartende Geschehnisse berichten sollte. 
				 
				Als nun die Beiden des öfteren einen Acker aufsuchten und das 
				Getreide, das dort einmal 
				gesät worden war, bis zur Wurzel abzupften, sah das der Besitzer 
				des Ackers mit 
				Schmerzen und sprach zu seinem Buben: "Gib mir einen Stein!" Das 
				signalisierte die 
				Krähe dem Kranich, und sie verhielten sich vorsichtig. Als die 
				Krähe auch am nächsten 
				Tage hörte, daß der Stein verlangt wurde, warnte sie aufs neue 
				den Kranich vor bösen 
				Folgen. Da wurde jenem Manne klar, daß die Krähe Warnungen gab, 
				und er sagte zu 
				seinem Buben: "Wenn ich sage: >Gib mir einen Bissen!< dann 
				reichst du mir einen 
				Stein." So geschah's, der Mann bat den Buben um einen Bissen, 
				der aber reichte ihm 
				den Stein, welcher den Kranich traf und ihm die Schenkel 
				zerschmetterte. Da sprach der 
				Verwundete die Krähe an: "Wo sind deine göttlichen Weissagungen? 
				Warum hast du mich 
				nicht gewarnt, daß mir das passieren könnte?" Doch die Krähe 
				antwortete: "Nicht meine 
				Intelligenz trägt hierbei die Schuld, leidbringend sind vielmehr 
				die Ratschläge all der bösen 
				Leute, die etwas anderes tun, als sie sagen." 
				 
				Die Fabel geht auf Leute, die durch Versprechungen Unschuldige 
				verleiten, denen sie 
				später ohne Zögern Schaden zufügen. 
				 
				Fab.19 
				Der Fuchs und der Rabe 
				 
				  
				
				
				Wer sich mit hinterhältigen Worten loben läßt, hat es zu 
				bereuen, wenn er betrogen 
				wird. Auf solche Leute paßt diese Fabel. 
				 
				Der Rabe stahl aus einem Fenster einen Käse und ließ sich auf 
				einem Baumwipfel nieder. 
				Als dessen der Fuchs gewahr wurde, rief er den Raben an: "O 
				Rabe, wer möchte dir 
				gleichkommen? Wie prachtvoll ist der Glanz deiner Federn! Und 
				welchen Schmuck würde 
				es für dich bedeuten, wenn du eine helle Stimme hättest; kein 
				andrer Vogel könnte dir 
				überlegen sein." Der Rabe aber wollte sich dem Fuchs gefällig 
				zeigen und seine Stimme 
				zu Gehör bringen; also begann er laut hoch droben zu krächzen, 
				dabei vergaß er den 
				Käse, der ihm, als er den Schnabel öffnete, entfiel. Der 
				hinterlistige Fuchs dagegen 
				schnappte voller Gier danach. Da seufzte der Rabe, denn es reute 
				ihn, daß er sich so 
				dumm hatte hinters Licht führen lassen. 
				 
				Doch was hilft die Reue, wenn, was geschah, nicht mehr zu ändern 
				ist? 
				 
				Fab.20 
				Der kranke Löwe 
				 
				Wer seine Stellung verliert, sollte auch sein früheres Auftreten 
				preisgeben, um nicht von 
				jedem x-beliebigen Unrecht erdulden zu müssen, wie die folgende 
				Fabel beweist. 
				 
				Altersschwach und abgezehrt lag der Löwe schwer leidend vor 
				seiner Höhle und harrte 
				seines letzten Stündleins. Da trat der Eber mit seinen scharfen 
				Zähnen zu ihm und nahm 
				wutschnaubend Rache für einen früheren Schlag. Der Stier stieß 
				seine Hörner in den Leib 
				seines Feindes, des Löwen. Als dessen der Esel gewahr wurde, 
				trat er ihm mit seinen 
				Hufen ins Gesicht. Da sprach der Löwe mit Seufzen und Stöhnen: 
				"Als ich bei Kräften 
				war, da stand ich in Ansehen und erweckte Furcht, daß alle 
				meinen Anblick mieden und 
				manche sogar vor meinem Namen erschraken. Und selbst die, denen 
				ich aus Wohlwollen 
				nichts antat, denen ich sogar zum Helfer wurde, mißhandeln mich 
				heute. Weil ich eben 
				kraftlos bin, ist es mit meiner früheren Geltung dahin." 
				 
				Diese Fabel ist eine Warnung für viele, die sich daran gewöhnt 
				haben, in Geltung zu stehen. 
				 
				Fab.21 
				Der 
				zärtliche Esel 
				 
				Wer keine Reverenz zu erweisen hat, der sollte sich nicht den 
				Höhergestellten aufdrängen. 
				Darüber hat der Dichter die folgende Fabel erzählt. 
				 
				Der Esel sah, wie das Hündchen täglich seinem Herrn 
				schmeichelte, sich von seinem 
				Tische nährte und von den Angehörigen des Herrn viele Geschenke 
				erhielt. Da hat 
				sich der Esel gesagt: "Wenn mein Herr und seine ganze Familie 
				ein so schmutziges Tier 
				derart lieben, um wieviel höher müßten sie mich dann schätzen, 
				wenn ich ihnen 
				meine Reverenz erweise? Denn ich bin doch etwas sehr viel 
				Besseres als der Hund, 
				weil ich zu vielen Sachen nützlich bin. Ich nähre mich von 
				Wasser aus geweihten Quellen, 
				und saubere Speise wird mir dargeboten; ich könnte jedoch noch 
				ein besseres Leben 
				haben und größere Achtung genießen." 
				 
				Während der Esel das bei sich erwog, bemerkte er, daß sein Herr 
				eintrat. Eilig lief er zu 
				ihm hin, iahend sprang er an ihm hoch, trat zu ihm und legte die 
				erhobenen Vorderfüße 
				auf beide Schultern des Herrn; dabei beleckte er ihn mit der 
				Zunge, beschmutzte ihm 
				den Rock und wurde ihm durch sein Gewicht lästig. Das Geschrei 
				des Herrn rief dessen 
				Angehörige herbei; die griffen zu Knüppeln und Steinen, fallen 
				über den Esel her, 
				schlagen ihm zum Krüppel und treiben ihn mit gebrochenen 
				Gliedern und Rippen zu 
				seiner Krippe zurück, halbtot und entkräftet. 
				 
				Die Fabel mahnt, daß kein Unwürdiger sich vordrängen soll, um 
				die Funktion eines 
				Höherstehenden wahrzunehmen. 
				 
				
				
				Fab.22 
				Der Löwe und die Maus 
				 
				Begeht der Schwache einen Fehler, so muß er, wenn er darum 
				bittet, Verzeihung 
				erlangen, damit nicht eine Lage eintreten kann, wo er Rache zu 
				üben vermag. 
				Vernehmen wir die Fabel, die für uns auf diese Situation hin 
				abgefaßt ist. 
				 
				Als der Löwe im Walde schlief, gerieten die Feldmäuse außer Rand 
				und Band, und eine 
				von ihnen stieg unfreiwillig über den Löwen. Dadurch aufgeweckt, 
				schlug der Löwe 
				blitzschnell nach der armen Maus und packte sie. Die bat 
				flehentlich um Gnade, denn sie 
				habe ja nicht in böser Absicht gehandelt. Ihr Vergehen 
				begründend, gestand sie 
				demütig, daß auch die andern herumgetollt seien und sie allein 
				von ihnen die Schuld auf 
				sich geladen habe. Der Löwe aber bedachte bei sich, ob es in 
				dieser Sache Vergeltung 
				bedeute, wenn er die arme Maus töte; Ruhm würde es ihm bestimmt 
				nicht einbringen, 
				allenfalls Tadel. Darum verzieh er ihr und ließ sie laufen. 
				 
				Wenige Tage später geriet der Löwe in eine Grube. Als er sich 
				gefangen sah, fing er ein 
				gewaltiges Gebrüll an und brachte laut seinen Schmerz zum 
				Ausdruck. Kaum hatte das 
				die Maus bemerkt, lief sie herbei und fragte den Löwen, was ihm 
				denn Schlimmes 
				passiert sei. Und nachdem sie erfuhr, daß er gefangen sei, 
				sprach sie: "Es besteht keine 
				Veranlassung, daß du dich ängstigst; denn ich werde mich dir in 
				gleicher Weise gefällig 
				zeigen, da ich mich sehr wohl deiner Großmut erinnere." So 
				sprach sie und sah sich 
				genau alle seine Stricke an. Nachdem sie die Stellen, die sie 
				annagen mußte, gefunden 
				hatte, nahm sie mit ihrem Schnäuzchen die Arbeit auf, trennte 
				nach und nach mit ihren 
				Zähnen die Schnüre und lockerte die kunstvollen Fesseln. So gab 
				die Maus den 
				gefangenen Löwen in Freiheit seinen Wäldern zurück. 
				 
				Es mahnt die Fabel, auch den ganz Kleinen kein Leid zu tun. 
				 
				Fab.23 
				Der kranke Weih 
				 
				Was soll, wer immer lästert, in der Bedrängnis erbitten? Wollen 
				wir sehen, was für eine 
				Fabel unser Autor dazu zu erzählen weiß. 
				 
				Als der Weih krank war und schon viele Monate darniederlag und 
				für sein Leben schon 
				keine Hoffnung mehr sah, bat er seine Mutter unter Tränen, die 
				heiligen Stätten zu 
				besuchen und für seine Errettung große Gelübde zu leisten. "Ich 
				will tun, was du 
				möchtest, mein Sohn," erwiderte diese. "Nur befürchte ich, daß 
				ich nichts erreiche; 
				denn, mein Kind, ich hege Besorgnis und große Furcht. Nachdem du 
				nämlich all die 
				heiligen Haine verwüstetest und alle Altäre beschmutztest und 
				auch die Tempel nicht 
				verschontest, worum, willst du, soll ich jetzt bitten?" 
				 
				Das sollen alle die hören, die Sünden begingen und, befleckt mit 
				ihren Sünden, die 
				heiligen Stätten betreten. Sie müssen vielmehr darauf sinnen und 
				trachten, daß ihre 
				bösen Taten getilgt werden. 
				 
				Fab.24 
				Die Schwalbe und die 
				Vögel 
				 
				Wer nicht auf guten Rat hört, wird einen schlechten finden, wie 
				die folgende Fabel beweist. 
				 
				Einst waren einige Vögel versammelt, die bemerkten, wie ein Mann 
				Lein säte, und gaben 
				nicht viel darauf. Die Schwalbe aber sah tiefer, rief die 
				anderen Vögel zusammen und 
				machte sie darauf aufmerksam, daß das ihr Schaden sein werde. 
				Doch alle die 
				Zusammengerufenen gaben nichts darauf und lachten bloß. Als 
				später der Samen Frucht 
				zu tragen begann, sprach die Schwalbe wieder zu ihnen: "Das ist 
				etwas Schlimmes; 
				kommt, wir wollen es herausreißen! Denn sowie es ausgewachsen 
				ist, werden die 
				Menschen, geschickt wie sie sind, Netze daraus machen, mit denen 
				sie uns fangen 
				wollen." Alle jedoch lachten über die Worte der Schwalbe, 
				mißgebilligten und 
				verschmähten ihren Rat. 
				Als das die Schwalbe sah, begab sie sich zu den Menschen, um 
				unter deren Dächern 
				geschützt zu sein. Und weil die anderen Vögel ihren Rat nicht 
				hören wollten, und ihre 
				Mahnungen in den Wind schlugen, so geraten sie jetzt immer in 
				Netze. 
				 
				Fab.25 
				Die Katze, die 
				Eule und die Maus 
				 
				Die Eule bat die Katze, daß sie auf deren Rücken steigen dürfe, 
				und schlug vor, nach der 
				Spitzmaus zu suchen. Die Katze brachte die Eule zum Hause der 
				Maus. Da bat die Eule 
				die Katze, jene zu rufen. Und  so geschah es. Als die Maus die 
				Stimme der Katze gehört 
				hatte, kam sie zur Haustür und fragte: "Was sucht ihr? Was habt 
				ihr zu sagen?" 
				Wir möchten sie sprechen," lautete die Antwort. Doch die Maus 
				erkannte, daß sie einen 
				bösen Plan gegen sie ausgeheckt hatten. "Verflucht seist du 
				Katze," rief sie daher, "du 
				meine Herrin, und die, welche auf dir sitzt, und eure Familien, 
				eure Söhne und Töchter 
				und eure ganze Verwandtschaft seien verflucht! Zur Unzeit wäret 
				ihr gekommen, und zur 
				Unzeit sollt ihr diesen Ort verlassen." 
				 
				Die Geschichte geht auf Leute, die ihren Feinden kein gutes Wort 
				zu sagen vermögen, 
				die sich in Feindschaften verstricken und Böses unter sich 
				ausbrüten. 
				 
				 
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