Fabelverzeichnis

weiter
 

Fabeln 3
 
Der dankbare Löwe
Der Löwe und das kluge Pferd
Das hochmütige Pferd und der Esel
Die Fledermaus im Krieg der Tiere
Die Nachtigall und der Habicht
Der Fuchs verrät den Wolf
Der eitle Hirsch
Venus und die Götter
Die Witwe und der Soldat
Die Dirne und der Jüngling
Äsop und der wilde Sohn
Die Schlange und die Feile
Die Schafe und die Wölfe
Die Bäume und der Mensch
Der Hund und der Wolf

Der Magen und die Glieder
Der Affe und der Fuchs
Der geprügelte Esel
Der Hirsch im Kuhstall
Der Affe am Königshof des Löwen
Der Fuchs und die Trauben
Das Wiesel und die Mäuse
Der Wolf und der treulose Hirt
Juno und der Pfau

Fab.51
Der dankbare Löwe

Die Mächtigen müssen den Geringen ihre Dankbarkeit erweisen, und auch wenn lange
Zeit vergeht, darf es kein Vergessen geben. Daß Entsprechendes wirklich geschah,
davon zeugt die folgende Fabel.

Ein Löwe hatte sich einmal im Walde verirrt, und während er hin und her lief, trat er in
einen Splitter, und weil sich innen Eiter ansammelte, begann er zu hinken. So traf er
einen Hirten. Dem schmeichelte er in einem fort mit seinem Schweif und hob dabei
beständig die Pfote.
Als der Hirt den Löwen auf sich zukommen sah, entsetzte er sich zunächst und hielt ihm
seine Schafe hin, weil er meinte, jener suche nach Nahrung. Doch dem Löwen ging es
nicht um Nahrung, sondern vielmehr um Heilung, und ohne zu zögern, legte er seine
Pfote dem Hirten auf den Schoß. Sobald nun der Hirt die Wunde und die große
Eiterbeule erblickte, kam ihm geistesgegenwärtig der rettende Gedanke. Er nahm eine
scharfe Ahle und öffnete damit vorsichtig die Wunde. Sowie das Geschwür aufgestochen
war, ging mit dem Eiter zugleich der Splitter ab. Der Löwe verspürte Erleichterung,
und zum Dank für die Heilung beleckte er die Hand des Hirten. Ein Weilchen blieb er noch
bei ihm sitzen, dann hatte sich seine alte Kraft wiedereingestellt, und er trollte munter
davon.
Nach geraumer Zeit wurde der Löwe gefangen und für die Arena des Amphitheaters
bestimmt, der Hirt aber wurde in einem Prozeß verurteilt und den wilden Tieren zum
Fraße vorgeworfen, gerade dort, wohin man den Löwen gebracht hatte. Man führte den
Hirten in die Arena und ließ gleichzeitig den Löwen los. Der ging mit gewohntem
Schwung zum Angriff, um dann allmählich innezuhalten. Sobald er nämlich zu dem Hirten
gekommen war, hatte er ihn erkannt und hob nun unter mächtigem Gebrüll seine Augen
und seinen Blick zu den Anwesenden. Darauf machte er am Balkon entlang die Runde
und nahm zurückkehrend seinen Platz neben dem Verurteilten, heißt ihn, nach Hause zu
gehen, und weicht nicht von dem Menschen.
Da erst begriff der Hirt, daß der Löwe um seinetwillen so lange verharrte, und er
vermutete, er müsse derjenige sein, mit dem er bereits im Walde Bekanntschaft
geschlossen und dem er die Geschwulst geöffnet hatte. Ein weiterer und ein dritter
Löwe werden in die Arena gelassen, damit der erste zurückweichen sollte; doch der blieb,
wo er war, und verteidigte seinen Schützling. Als das die Zuschauer sahen, verfielen sie
in großes Staunen und fragten den Verurteilten nach den Zusammenhängen.
Nachdem der Hirt den Leuten den Grund berichtet hatte, forderten diese in großer
Abstimmung für beide die Begnadigung. Und so wurden sie denn zugleich entlassen,
der Löwe in seinen Wald und der Hirt zu seinen Angehörigen.

Diese Geschichte muß publik gemacht werden, damit alle Menschen aneinander Dankbarkeit
üben.

Fab.52
Der Löwe und das kluge Pferd

Wer nichts kann, verrät sich selber, wie uns die nachstehende Fabel berichtet.

Ein starker Löwe sah ein Pferd auf einer Wiese weiden. Um dieses bequem täuschen zu
können, näherte er sich ihm wie ein Freund und gab sich als Arzt aus. Das Pferd
erkannte den Betrug, verweigerte jedoch trotzdem nicht den angebotenen Dienst.
Schließlich kam ihm geistesgegenwärtig ein Einfall. Es hob den Fuß und gab vor, in einen
Dorn getreten zu sein. "Bruder", rief es, "steh mir bei! Wie froh bin ich, daß du gerade
vorüberkommst! Schaffe mir Erleichterung, weil ich in einen Dorn getreten bin."
Geradezu demütig kam der Löwe herzu und verbarg seine Hinterlist. Aber das Pferd
ließ ihn alsbald seine harten Hufe spüren. Da fiel der Feind und blieb für längere Zeit
besinnungslos liegen. Doch als er wieder zu sich kam, war von dem Pferd nirgends mehr
etwas zu sehen. Da merkte der Löwe, daß er an Kopf und Gesicht und daß er am
ganzen Körper verletzt war, und er sprach: "Mit Recht habe ich das erduldet, da ich sonst
immer wie ein Metzger daherkam, während ich diesmal trügerisch als Freund und als Arzt
näherte, der ich doch, wie gewohnt, als Feind hätte kommen müssen."

Deshalb sage ich allen, die das hören: Sei, was du bist, und lüge nicht!

Fab.53
Das hochmütige Pferd und der Esel



Eine Fabel, die von den Zeit und Glücksumständen handelt, wollen wir jetzt hören.
Die sich glücklich wissen, sollen niemandem Unrecht tun und sich daran erinnern, daß alles,
was vom Glück abhängt, zweifelhaft ist, wovon die folgende Fabel berichtet.

Ein Pferd, das mit goldenem und silbernem Zaumzeug geschmückt und mit Sattel und
prächtiger Schabracke hinreichend aufgeputzt war und von Jugendkraft strotzte,
begegnete an einer Wegenge einem Esel, der von weit her seine Last trug. Und weil er,
ermüdet von der Reise, dem Pferd beim Vorübergehen erst spät den Weg freigegeben
hatte, fuhr dieses ihn an: "Ich muß schwer an mich halten; sonst würde ich dir mit
meinen Hufen die Knochen brechen, weil du bei unserer Begegnung nicht zurückgewichen
oder wenigstens stehengeblieben bist, bis ich vorbei war."
Über so viel Anmaßung erschrocken, verstummte der arme Esel.

Es verging nicht lange Zeit, da das Pferd abgeritten, und weil es keine ausreichende
Versorgung und Pflege hatte, magerte es ab. Sein Herr gab Befehl, es aufs Landgut zu
bringen, damit es Mist auf die Felder führe. Es mußte bäuerliches Geschirr annehmen
und ging mit schwerer Last über Saumpfade. Unser Esel, der auf einer Wiese weidete,
erkannte das jetzt unglückliche Pferd und plärrte es an: "Was hat dir nun deine kostbare
Aufmachung genützt, die dich so anmaßend machte? Jetzt gehst auch du bloß der
gleichen Landarbeit nach wie ich; bist du nun vielleicht auch noch frech?"

Es mahnt diese Geschichte, es möge niemand, wenn er in der Macht steht, andere
einschüchtern.

Fab.54
Die Fledermaus im Krieg der Tiere

Über doppelzüngige Menschen hat Äsop die folgende Fabel abgefaßt.
Wer sich zwei Parteien unterwürfig zeigt, ist für die eine wie für die andere unwillkommen
und wird sich dafür selbst die Schuld geben müssen.

Die Vierfüßler führten mit den Vögeln einen großen Krieg, und keine Seite wollte der
anderen nachgeben, sondern beide kämpften tapfer und zogen den Streit in die Länge.
Die Fledermaus aber war sich im Zweifel und fürchtete schwere Zwischenfälle. Weil nun
die Streitmacht der Vierfüßler mächtig und überlegen schien, begab sie sich zu diesen als
den vermeintlichen Siegern. Plötzlich kam der Adler auf Mars' Rechte geflogen; darauf
schüttelte er sein Gefieder und machte gemeinsame Sache mit den Vögeln.
Dadurch erlahmten die Vierfüßler, und der Sieg stand bei den Vögeln. Schließlich kehrten
Vögel wie Vierfüßler zum früheren Friedenszustand zurück. Die Fledermaus aber wurde,
weil sie die Ihren im Stich gelassen hatte, durch den Spruch der Vögel dazu verdammt,
für alle Zeit das Licht zu meiden, und man beraubte sie ihrer Federn, so daß sie nun des
Nachts nackt herumfliegen muß.

So muß es denen ergehen, die sich auf die Seite anderer schlagen und ihre eigenen
Leute im Stich lassen.

Fab.55
Die Nachtigall und der Habicht

Wer anderen nachstellt, muß selber fürchten, Opfer der eigenen Bosheit zu werden,
wie die folgende Fabel beweist.

Als sich der Habicht im Nest der Nachtigall niederließ, um dem Hasen aufzulauern, fand
er dort die kleinen Jungen. Überraschend kam die Nachtigall dazu und bat den Räuber,
ihre Jungen zu verschonen. "Ich will deinem Wunsch entsprechen", antwortete der,
"wenn du mir etwas Schönes vorsingst". Da begann die Nachtigall, obgleich ihr die Lust
fehlte, zu singen, durch Furcht und Angst genötigt und voller Schmerz. Der Habicht,
der wider Erwarten auf Beute gestoßen war und diese nicht preisgeben wollte,
sagte nur: "Du hast nicht gut gesungen", ergriff eines der Jungen und begann, es zu
verspeisen. Von der gegenüberliegenden Seite kam ein Vogelsteller dazu, der legte ohne
viel Aufhebens seine Rute aus und zog den Habicht, der in dem Leim festklebte,
zur Erde herunter.

So muß, wer anderen nachstellt, befürchten, selber geschnappt zu werden.

Fab.56
Der Fuchs verrät den Wolf

Guten und Bösen hilft das Glück; wem es aber nicht hilft, auf den ist es neidisch.
Wer gegen die vom Glück Begünstigten Neid im Herzen hegt, den bringt nachher die
eigene Bosheit zu Fall. Gegen solche Leute hat unser Erzähler die nachfolgende
Geschichte gerichtet.

Der Wolf hatte mit der Zeit reiche Beute in seinem Bau zusammengetragen, um davon
mehrere Monate exquisit leben zu können. Kaum hatte der Fuchs davon erfahren,
als er an dem Wolfsbau erschien und mit heuchlerischer Stimme sprach: "Warum nur
habe ich dich so viele Tage nicht gesehen? Ich war traurig darüber, auch weil du mit
mir keine Streifzüge unternommen hast." Ihm entgegnete der Wolf, der den Neid des
Fuchses durchschaute: "Nicht weil du über mich beunruhigt wärest, bist du gekommen,
sondern um etwas zu stehlen. Ich lege keinen Wert auf deinen Besuch; denn ich weiß,
daß du etwas im Schilde führst."
Über diese Worte höchst erzürnt, begab sich der Fuchs zu dem Schafhirten. Wirst du es
mir danken", fragte er ihn, "wenn ich dir noch heute den Feind deiner Herde ausliefere,
daß du darum keine Sorge mehr zu haben brauchst?" – "Ich bin zu Gegendiensten
bereit", erwiderte der Hirt, "und werde dir zur Verfügung stehen, wenn du einen Wunsch
hast." Da verriet der Fuchs den eingeschlossenen Wolf. Der Hirt durchbohrte ihm mit
dem Jagdspieß und der Rivale sättigte sich an dem fremden Gut. Nicht viel später freilich
traf er selber auf den Jäger. Als ihn dessen Hunde gepackt und zerrissen hatten, rief er
aus: "Ich habe schon schlecht gehandelt, und entsprechend gehe ich zugrunde, weil ich
einem anderen weh tat."

So müssen auch die Menschen sich davor fürchten, anderen Schaden anzutun.

Fab.57
Der eitle Hirsch



Mitunter loben wir das, was unnütz, und tadeln wir das, was gut und höchst notwendig
ist. Das bezeugt Äsops folgende Fabel.

Ein Hirsch, der aus einer Quelle trank und sein großes Geweih erblickte, lobte dieses über
die Maßen, dagegen tadelte er die Schenkel als zu dünn. Als dieser Hirsch sich wieder an
die Quelle begab, vernahm er plötzlich die Stimme des Jägers sowie das Gekläff der
Hunde. Durch Flucht über das Feld, so hört man, vermochte sich der Hirsch zunächst den
Doggen zu entziehen. Sowie ihn aber der Wald aufgenommen hatte, gab ihm die Größe
seines Geweihs den Jägern preis. Den Tod vor Augen, sprach er: "Was mir von Nutzen
war, habe ich getadelt, und gelobt, was mir trügerisch wurde."

So loben auch wir oft das Unnütze und tadeln das Gute.

Fab.58
Venus und die Götter

Über die Eigenschaften der Frauen hat der Erzähler diese Fabel erdichtet.

Von den Göttern und Göttinnen lobte Juno die Keuschheit und versuchte zu überzeugen,
daß es besser sei, wenn eine Frau mit nur einem Manne verheiratet sei und sich mit
dem ihrigen bescheide. Da trug Venus, um zu scherzen, Aussprüche von Hennen vor.
Als sie eine geduldige, verschwiegene Henne gefragt habe, wieviel sie, um satt zu
werden, brauche, habe die geantwortet: "Was ich bekomme, ist mir reichlich genug,
und trotzdem scharre ich." Venus nun habe dieser Henne in aller Gegenwart gesagt:
Damit du nicht scharrst, gebe ich dir einen Scheffel Weizen." Doch die Henne erwiderte
der Göttin: "Und wenn du mir die ganze Scheune aufmachst, ich werde trotzdem
scharren." Da habe Juno gelacht über das, was Venus von der Henne zu erzählen wußte.

Von daher erkannten die Götter, daß es den Frauen ähnlich ergeht. So fing denn
Jupiter an, sich vielen Frauen zu nähern, und keine versagte sich dem Zudringlichen.

Fab.59
Die Witwe und der Soldat

Keusch ist die Frau, welche dem ungestümen Liebhaber nicht nachgibt. Darüber äußert
sich der Verfasser dieser Sentenz in seiner Fabel folgendermaßen.

Eine Frau, die ihren Gatten verloren hatte, begab sich zu dem Mausoleum, in welchem
der Gemahl beigesetzt war, um dort ihre Trauertage zu verbringen.
Da geschah es, daß einer, weil er sich vergangen hatte, nach dem Gesetz das Urteil
empfing, am Kreuze aufgehängt zu werden. Ihm wird ein Soldat beigegeben, um zu
verhindern, daß die Angehörungen des Nachts den Leichnam beiseite brachten.
Bei seinem Wachdienst überkam den Soldaten der Durst, er begab sich infolgedessen zu
dem Mausoleum, bat um ein bißchen Wasser, empfing es, trank es und machte sich auf
den Heimweg. Als er aber der Frau gewahr wurde, wendete er sich um und spendete ihr
Trost. So geschah es ein zweites und ein drittes Mal.
Während er nun des öfteren von der Freundin gerufen wurde, entwendete man den
Leichnam jenes, der am Kreuze hing. So mußte der zurückkehrende Soldat den Toten
vermissen; erschrocken flüchtete er sich zu der Frau, warf sich ihr zu Füßen und klagte:
"Was soll ich tun, was machen?" jammerte er. "Komm mir zu Hilfe, dich bitte ich um
Rat!" Schließlich erbarmte sie sich des Soldaten, hob den Leichnam des Gatten von
seinem Platze auf und befestigte ihn des Nachts an dem Kreuz.
Die heimliche Tat blieb verborgen. So konnte dank solchen Erbarmens der Soldat seinem
Dienste gerecht werden, die Frau dagegen errötete nicht angesichts ihrer Dienstleistung,
und sie, die einst keusch gewesen war, ließ doppeltes Verbrechen zu.

Es sollen die Toten Grund haben zu trauern und die Lebenden Grund haben zu fürchten.

Fab.60
Die Dirne und der Jüngling

Über die Dirnen hat uns der Erzähler die folgende Geschichte zu berichten, wie nämlich
diese unverschämten Weiber die Männer absichtlich hereinlegen.

Eine bestimmte Dirne war wahrhaft gemeingefährlich. Einmal schmeichelte sie einem
jungen Mann, dem sie schon öfter Unrecht getan hatte, und da jener sich ihr wegen des
Geschlechtsverkehrs leicht ergeben hatte, wandte sich schließlich das Weib mit folgenden
Worten an ihn: "Mag sein, daß viele mit Geschenken um mich bemüht sind,
ich jedenfalls liebe dich und habe dich sehr gern." Und obwohl der junge Mann daran
denken mußte, wie oft er von ihr hintergangen worden war, gab er ihr trotzdem
freundlich Antwort: "Auch ich, mein Stern, mag dich leiden, nicht weil du mir die Treue
hältst, sondern weil du mir angenehm bist." So foppten sie einander mit Worten.

Denn die Männer sind einfältig, und gar wenn die Weiber sie nackt antreffen, plündern sie
sie aus.

Fab.61
Äsop und der wilde Sohn

Manche muß man in jungen Jahren zähmen, weil es bei den Größeren schwierig ist.

Ein Vater hatte einen wilden Sohn; der blieb alle Tage draußen, und die Sklaven erhielten
seinetwegen Prügel. Dazu äußerte sich unser Erzähler in einer Fabel: "Ein Bauer schirrte
ein Kalb mit einem älteren Rind zusammen. Da versuchte das Kalb, mit der Ferse und mit
den Hörnern sich das Joch vom Halse zu streifen. Als er dadurch das Rind verärgerte,
sagte der Bauer zu diesem: "Nicht des Arbeitens wegen habe ich euch zusammengebunden; vielmehr wünsche ich die Zähmung des Jüngeren. Hat der nämlich erst einmal durch
Fehltritte und Hornstöße jemanden verletzt, so wird man ihn mit Steinen und Knüppeln
kleinkriegen."

Also muß jeder seine jüngeren Söhne in Schach halten.

Fab.62
Die Schlange und die Feile



Über zwei Bösewichte hat der Erzähler die folgende Geschichte gemacht. Der Böse tut
dem Schlimmeren nichts an, der Ungerechte setzt dem Ungerechten nicht zu, und der
Hartherzige klebt nicht an dem Hartherzigen.

In der Werkstatt eines Meisters kam einstens eine Schlange. Und während sie nach
etwas Eßbarem suchte, fing sie an, die Feile zu benagen. Da wandte sich die Feile
lachend an die Schlange: "Möchtest du, Böse, vielleicht deine Zähne beschädigen?
Ich bin es nämlich, die daran gewöhnt ist, jedes Eisen zu benagen. Ist aber etwas rauh,
so mache ich es durch mein Reiben glatt, und wenn ich eine Ecke behandle und es ist
da etwas, so schneide ich es ab."

Demgemäß soll man mit einem, der leidenschaftlicher ist, nicht streiten.

Fab.63
Die Schafe und die Wölfe

Den Schutzherrn und Patron darf man nicht im Stich lassen. Darüber hat Äsop die
folgende Geschichte erzählt.

Die Schafe und die Wölfe führten einen so heftigen Krieg miteinander, daß kein Part dem
anderen nachgeben wollte. Die Schafe waren in der Überzahl, und zu ihnen standen die
Hunde und die Widder. So schien der Sieg den Schafen zu gehören.
Das wußten die Wölfe. Darum schickten sie Gesandte ab, die um Frieden bitten sollten
unter der Bedingung, daß die Schafe die Hunde als Geiseln stellten und sie ihrerseits die
Wolfsjungen erhielten. So geschah es, und man bestätigte eidlich die Abmachungen.

Nachdem bei den Schafen Frieden eingetreten war, fingen einmal die Wolfsjungen an zu
heulen. Die Wölfe, die daraus schlossen, daß ihre Jungen gequält würden, kamen
eilends von überallher zusammen und behaupteten, die Schafe hätten den Frieden
gebrochen. Mit dieser Begründung begannen sie die Schafe zu zerfleischen, denen kein
Schutzherr Hilfe gewährte und die kein Patron verteidigte.

Fab.64
Die Bäume und der Mensch

Dem Feinde Hilfe zu leisten kann den eigenen Tod bedeuten, wie die nachfolgende
Fabel beweist.

Nachdem er sich eine Axt angefertigt hatte, forderte der Mensch von den Bäumen,
daß sie ihm dazu den Stiel lieferten aus einem Holz, das fest sein müsse. Einstimmig
wiesen sie auf das Holz des Ölbaums. So nahm der Mensch den Stiel, befestigte ihn an
der Axt und begann bedenkenlos Zweige und dicke Stämme und alles, was ihm gut
dünkte, abzuhauen. Da sprach die Eiche zur Esche: "Mit vollem Recht müssen wir all das
erdulden; warum haben wir voller Verblendung unserem Feind auf sein Ersuchen den
Stiel in die Hand gegeben?"

Also soll, wer klug bedenkt, dem Feind nichts zur Verfügung stellen.

Fab.65
Der Hund und der Wolf



Wie angenehm die Freiheit ist, erzählt in Kürze die Fabel unseres Autors.
Jede Freiheit ist der Inbegriff, recht zu handeln. Denn bei den Freien herrscht Willkür,
bei den Sklaven Tugend und Ruhm. Leistungsstark sehen wir nämlich häufig die Sklaven
und ohne Wirkung die Freien.

Ein Beispiel: Als der Hund und der Wolf einander im Walde begegneten, sprach der Wolf
zum Hund: "Woher, Bruder, bist du so schmuck und wohlgenährt?" Der Hund antwortete
dem Wolfe: "Weil ich zu Haus Wache halte gegen Räuber, die vorüberkommen könnten.
Nirgendwo kann jemand eindringen, und sollte zufällig des Nachts ein Dieb kommen,
so zeige ich es an. Man reicht mir Brot, mein Herr gibt mir Knochen, und die anderen
machen es ähnlich. Die ganze Familie hat mich lieb, und man wirft mir hin, was ein jeder
über hat. Alles, was nicht aufgegessen wird, bekomme ich; darum ist mein Leib so prall.
Will ich mir etwas zugute tun, ruhe ich unter dem Dach. Wasser habe ich im Überfluß.
So führe ich ein geruhsames Leben."
Der Wolf erwiderte darauf: "Gut geht es dir, lieber Bruder; ich wünschte, es würde auch
mir zuteil, daß ich geruhsam mich nähren und ein besseres Leben unter einem festen
Dache führen könnte." Dazu sagte der Hund: "Wenn du willst, daß es dir gut geht,
so komm mit mir; es besteht kein Grund zur Furcht."
Als nun die beiden miteinander des Weges zogen, sah der Wolf, wie der Hals des Hundes
von der Kette durchgerieben war. "Was ist das, Bruder?" fragte er. "Welches Joch hat dir
den Hals zerrieben?" Der Hund erklärte: "Weil ich recht scharf bin, werde ich tagsüber
festgelegt und nachts losgebunden; im Hause habe ich freien Auslauf und kann schlafen
wo ich will."
Da rief der Wolf: "Ich habe es nicht nötig, jene Dinge zu genießen, die du gelobt hast.
Ich will leben, was immer auch auf mich zukommen mag. Frei streife ich herum, wo es
mir gefällt, keine Kette hält mich fest, keine Überlegung behindert mich. Offen stehen mir
die Wege im freien Feld. Zugang habe ich zu den Bergen, nichts brauche ich zu fürchten.
Von der Herde nehme ich meine Kostprobe, und die Hunde täusche ich mit meinen Einfällen.
Leb du so, wie du es gewöhnt bist, ich führe mein Leben nach meiner Weise."

Fab.66
Der Magen und die Glieder



Wer aus Dummheit seine Angehörigen im Stich läßt, der soll wissen, daß er zuerst
sich selber täuscht.

Niemand vermag etwas ohne die Seinen; dazu dieses Beispiel:
Von den Körperteilen, den Händen und Füßen, erzählt man, sie seien ärgerlich geworden
und hätten dem Magen die Nahrung verweigert, deshalb, weil er sich ohne jegliche Arbeit
jeden Tag neu fülle. Er selbst sitzt bloß müßig dabei. Weil aber den Magen hungerte,
erhob er ein Geschrei. Die Körperteile indes wollten ihm einige Tage hindurch nichts
geben. Dadurch, daß der Magen fasten mußte, erschlafften alle Glieder. Später jedoch,
als sie ihm wieder Nahrung zuführen wollten, versagte sich der Magen; denn er hatte
schon alle Wege verschlossen. So gingen Glieder und Magen zusammen vor Erschöpfung
zugrunde.

Die Fabel ermahnt die Diener zur Treue, weil sie dadurch stark sind und auf Dauer
rechnen können.

Fab.67
Der Affe und der Fuchs

Über den Reichen und den Armen erzählt man diese Fabel.

Inständig bat der Affe den Fuchs, er möchte ihm doch von seinem langen Schwanz ein
Stückchen abgeben, damit er seinen gar so häßlichen Hintern darunter verbergen
könne. "Was hast du davon", meinte er, "wenn du dich nutzlos mit solch einem langen
Schwanz belädst, den du bloß durch den Schmutz ziehst?" Doch der Fuchs entgegnete:
"Ich wünschte, er wäre noch länger und noch größer und ich könnte ihn nicht nur durch
den Schmutz, sondern auch über Felsen, Dornen und Kot ziehen. Nur du sollst durch
meinen Schmuck nicht schöner werden!"

O du reicher Geizhals, dich schilt diese Geschichte, weil du nicht das abgibst, was du im
Überfluß hast!

Fab.68
Der geprügelte Esel


Viele müssen selbst nach dem Tod noch Qual erleiden, wie die folgende Geschichte
beweist.

Einst zog ein Kaufmann mit seinem Esel seine Straße, und weil er rechtzeitig zum Markt
kommen wollte, schlug er mit Peitsche und Knüppel auf das schwerbeladene Tier ein,
um der Geschäfte wegen schneller sein Ziel zu erreichen. Der Esel aber sehnte den Tod
herbei, weil er meinte, wenigstens nach dem Tode ohne Plage zu sein. Schließlich ging
er vor Abspannung und Entkräftung ein. Doch da machte man sogleich aus seiner Haut
Trommeln und Siebe, auf die immerfort geschlagen wird, und er, der da glaubte, nach
dem Tode frei von Plage zu sein, wird auch nach seinem Hinscheiden noch geprügelt.

Fab.69
Der Hirsch im Kuhstall

Die da fliehen, sind nicht außer Gefahr, sondern werden allenfalls durch Zufall
bewahrt, wie uns die nachstehende Fabel berichtet.

Ein Hirsch, den der Jagdlärm aufgescheucht und zittern gemacht hatte, flüchtete sich,
um den Jägern zu entkommen, in den nächsten Gutshof und begab sich in den Stall,
ohne den Kühen zu verhehlen, weswegen er gekommen war. Da redete eine Kuh in an:
"Warum willst du hier in den Tod gehen? Der Wald hielt dich verborgen, ja du würdest
besser die Fluren durcheilen als hierherkommen." Doch der Hirsch entgegnete flehentlich:
"Verbergt mich nur für ein Weilchen. Wenn es dunkel wird, kann ich ungeschoren überallhin
gehen." Und während er das sprach, versteckte er sich an einem verborgenen Orte,
Als die Schweizer Heu und Laub und anderes Futter im Stall stapelten, sahen sie den
Hirsch nicht, und auch der Meier, der alles beaufsichtigte, wurde seiner nicht gewahr.
So dankte der Hirsch beredt den Kühen, daß sie ihn auf seiner Flucht verborgen hielten.
Indes erwiderte ihm eine von diesen: "Wir werden dich schon heil bewahren,
vorausgesetzt, daß er dich nicht sieht, der hundert Augen hat; denn wird er auf dich
aufmerksam, so wird er dir sogleich das Leben nehmen."
Noch während die Kuh das zu dem Hirsch äußerte, trat plötzlich der Herr ein, und weil er
letzthin hatte feststellen müssen, daß die Kühe infolge Vernachlässigung abmagerten,
kam er herzu, um die Krippen zu besehen. Als er da konstatieren mußte, daß diese leer
und das Futter gestapelt war, wurde er wütend auf die Schweizer; während er selber in
das Laub greift, erblickt er plötzlich das Hirschgeweih. "Was soll das?" schrie er und ruft
die Schweizer zu sich. "Woher kommt der Hirsch?" fragte er sie. Doch die schwören alle
guten Glaubens, daß sie es nicht wüßten.
Da freute sich der Herr über den Hirsch, und keiner kommt, nach diesem zu suchen.
So ergötzt er sich mit den Seinen für ein paar Tage an Hirschbraten.

Die Fabel zeigt, das der Herr in allen Dingen mehr zu erblicken vermag.


Fab.70
Der Affe am Königshof des Löwen

Vor Tyrannen zu reden ist eine Strafe, vor ihnen zu schweigen eine Marter. Das beweist
die folgende Fabel.

Als die Tiere den Löwen als den Stärksten zum König gemacht hatten, beschloß dieser,
im Interesse seines guten Rufes der Gewohnheit der Könige zu folgen, auf seine früheren
Schandtaten zu verzichten und seine Lebensformen zu ändern. Keinem Tier, schwor er,
etwas zuleide zu tun, nur unblutige Speise zu sich zu nehmen und sein Wort heilig und
treu zu wahren.
Es dauerte nicht lange, da reute ihn die Sache, und weil er seine Natur nicht ändern
konnte, nahm er seine Opfer beiseite und fragte sie hinterhältig, ob er aus dem Munde
rieche. Ob das nun einer bejahte oder einer verneinte, er zerriß sie alle, daß er bald
vom Blute troff.
Nachdem das mit vielen so geschehen war, rief er den Affen zu sich und fragte ihn,
ob er ein stinkendes Maul habe. Der erwiderte, sein Mund dufte süßer als Zimt und wie
ein Götteraltar. Der Löwe errötete angesichts dieses Lobredners und tat ihm nichts.
Um ihn aber zu treffen, umging er sein Gelöbnis und suchte nach einer List: er stellte
sich, als sei er erschöpft. Fortan kamen Ärzte, um ihm den Puls zu fühlen, und als sie
diesen gesund fanden, rieten sie ihm zu einer Speise, die leicht sei und ihm zwecks
guter Verdauung den Ekel nehme.
Weil nun aber Königen alles erlaubt ist, rief der Löwe: "Noch unbekannt ist mir das
Affenfleisch, ich möchte es probieren." Kaum gesagt, wird sogleich der schönrednerische
Affe getötet, damit der Löwe rasch zu seiner Speise käme.

Die gleiche Pein trifft eben den, der redet, wie den, der nicht redet.

Fab.71
Der Fuchs und die Trauben



Mit Worten verheißt ein Geschäft, wer es nicht mit Taten kann. So erzählt diese Fabel.

Hungrig erblickte der Fuchs eine Traube, die noch oben am Weinstock hing. Zu ihr wollte
er gelangen, doch sosehr und sooft er sich auch reckte, konnte er sie trotzdem nicht
erreichen. Da sprach er, so ist es überliefert, voller Zorn: "Ich mag dich nicht, du bist
herb und unreif." Und so. als habe er sie nicht anrühren wollen, trollte er sich.

Dergestalt demonstrieren diejenigen, die mit ihren Kräften nichts ausrichten können,
ihr Unvermögen und ihr Nichtwollen trotzdem mit Worten.

Fab.72
Das Wiesel und die Mäuse

Daß einer mit Schlauheit vermag, wozu seine physischen Kräfte nicht reichen,
darüber gibt uns die folgende Fabel eine kurze Belehrung.

Ein Wiesel, das schon alt geworden war und den Mäusen nicht mehr folgen konnte,
wälzte sich im Mehl und verbarg sich an einem dunklen Ort in der Absicht, im Kreise
Unschuldiger ohne eigene Anstrengung Beute zu machen. Da kam eine arme, dumme
Maus, die dachte an ein Gras, und da war es schon um sie geschehen, ohne Verschulden
und unverdient! Eine zweite wird auf gleiche Weise gefangen und eine dritte ebenso.
Schließlich erschien eine betagte, vorsichtig gewordene Maus, die sich mit allen
Mausefallen, Fanglöchern, Fallstricken und sonstigen Täuschungsinstrumenten auskannte.
Als sie den Trick der Feindin bemerkte, sagte sie zu dieser: – so erzählt man es sich
jedenfalls – "Du verführst die Mäuse und verschlingst die Unschuldigen; mich, du Böse,
wirst du jedoch nicht fangen, denn ich kenne alle deine Schliche."

Fab.73
Der Wolf und der treulose Hirt



Wer blanke Worte führt und treulos ist, sündigt im Herzen, wie es die folgende Fabel
berichtet.

Als der ruchlose Wolf einmal eilig vor einem Verfolger floh, wurde einem Rinderhirten
sichtbar, in welche Richtung er lief und an welchem Orte er sich verbarg. Von Furcht
erfüllt, flehte der Wolf den Hirten an: "Ich bitte dich bei allen deinen Hoffnungen,
verrat mich nicht meinem Verfolger, dem - ich schwöre es dir – ich nichts getan habe."
Der Angesprochene erwiderte: "Hab keine Angst und sorge dich nicht. Ich werde ihm
sagen, du seist in die andere Richtung gelaufen."
Bald erschien der Verfolger und hieß den Hirten den Wolf zeigen: "Du hast gesehen, daß
hierher der Wolf kam; mach mir kenntlich, wo er ist." Darauf der Hirt: "Der Wolf war
schon hier, aber er ist nach links fort. Dort mußt du weiterfragen." So sprach er, doch
mit den Augen wies er den Verfolger in die Richtung nach rechts. Indes, jener verstand
den Wink nicht und ging eilig weiter.
So wandte sich der Hirt an den Wolf: "Welchen Dank werde ich dafür haben, daß ich
dich verbarg?" Der Wolf jedoch entgegnete ihm: "Deiner Zunge schulde ich Dank,
deinen betrügerischen Augen dagegen wünsche ich volle Blindheit."

Diese Fabel tadelt die, deren Doppelzüngigkeit offenbar ist.

Fab.74
Juno und der Pfau

Was einem jeden verliehen ist, das möge er brauchen, wie es uns die folgende Fabel
Äsops erzählt.

Zornig und verärgert erschien der Pfau vor Juno und führte Beschwerde darüber, daß
die Nachtigall singe und sich in den menschlichen Gesängen auskenne, während er diese
Gabe nicht besitze, sondern man ihn vielmehr verlache, wenn er seine Stimme erhebe.
Um ihn zu trösten, spricht Juno ihn freundlich an: "Deine Erscheinung übertrifft deine
Stimme und deine Figur die der Nachtigall. Die Farbe und der Glanz eines Smaragdes
umfließt dich, keiner kommt dir gleich, es glitzert deine Brust, und wie von Edelsteinen
leuchten dein Schwanz und dein Hals." Doch der Pfau erwiderte Juno: "Was soll mir all
das? An Stimme bin ich unterlegen."
Darauf Juno: "Nach dem Spruch des Schicksals sind euch allen von den Göttern jeweils
Teile zugewiesen worden. Du empfingst Glanz und Farbe und Figur, der Adler die größere
Männlichkeit, die Nachtigall die Singstimme, der Rabe die Wahrsagekunst,
die Ringeltaube ist immerfort traurig, der Kranich zeigt die Jahreszeiten an, und im
Ölbaum nistet die Drossel, die Grasmücke hält sich an die Früchte, die Schwalbe freut
sich des Morgensterns, nackt fliegt zu später Stunde die Fledermaus, der Hahn kennt die
Stunde der Nacht, und ein jeder hat Überfluß an dem Seinigen.
Du solltest darum nicht nach dem fragen, was dir die Götter nicht gaben."