Fab.51
Der dankbare Löwe
Die Mächtigen müssen den Geringen ihre Dankbarkeit erweisen,
und auch wenn lange
Zeit vergeht, darf es kein Vergessen geben. Daß
Entsprechendes wirklich geschah,
davon zeugt die folgende Fabel.
Ein Löwe hatte sich einmal im Walde verirrt, und während er
hin und her lief, trat er in
einen Splitter, und weil sich innen Eiter ansammelte, begann
er zu hinken. So traf er
einen Hirten. Dem schmeichelte er in einem fort mit seinem
Schweif und hob dabei
beständig die Pfote.
Als der Hirt den Löwen auf sich zukommen sah, entsetzte er
sich zunächst und hielt ihm
seine Schafe hin, weil er meinte, jener suche nach Nahrung.
Doch dem Löwen ging es
nicht um Nahrung, sondern vielmehr um Heilung, und ohne zu
zögern, legte er seine
Pfote dem Hirten auf den Schoß. Sobald nun der Hirt die
Wunde und die große
Eiterbeule erblickte, kam ihm geistesgegenwärtig der
rettende Gedanke. Er nahm eine
scharfe Ahle und öffnete damit vorsichtig die Wunde. Sowie
das Geschwür aufgestochen
war, ging mit dem Eiter zugleich der Splitter ab. Der Löwe
verspürte Erleichterung,
und zum Dank für die Heilung beleckte er die Hand des
Hirten. Ein Weilchen blieb er noch
bei ihm sitzen, dann hatte sich seine alte Kraft
wiedereingestellt, und er trollte munter
davon.
Nach geraumer Zeit wurde der Löwe gefangen und für die Arena
des Amphitheaters
bestimmt, der Hirt aber wurde in einem Prozeß verurteilt und
den wilden Tieren zum
Fraße vorgeworfen, gerade dort, wohin man den Löwen gebracht
hatte. Man führte den
Hirten in die Arena und ließ gleichzeitig den Löwen los. Der
ging mit gewohntem
Schwung zum Angriff, um dann allmählich innezuhalten. Sobald
er nämlich zu dem Hirten
gekommen war, hatte er ihn erkannt und hob nun unter
mächtigem Gebrüll seine Augen
und seinen Blick zu den Anwesenden. Darauf machte er am
Balkon entlang die Runde
und nahm zurückkehrend seinen Platz neben dem Verurteilten,
heißt ihn, nach Hause zu
gehen, und weicht nicht von dem Menschen.
Da erst begriff der Hirt, daß der Löwe um seinetwillen so
lange verharrte, und er
vermutete, er müsse derjenige sein, mit dem er bereits im
Walde Bekanntschaft
geschlossen und dem er die Geschwulst geöffnet hatte. Ein
weiterer und ein dritter
Löwe werden in die Arena gelassen, damit der erste
zurückweichen sollte; doch der blieb,
wo er war, und verteidigte seinen Schützling. Als das die
Zuschauer sahen, verfielen sie
in großes Staunen und fragten den Verurteilten nach den
Zusammenhängen.
Nachdem der Hirt den Leuten den Grund berichtet hatte,
forderten diese in großer
Abstimmung für beide die Begnadigung. Und so wurden sie denn
zugleich entlassen,
der Löwe in seinen Wald und der Hirt zu seinen Angehörigen.
Diese Geschichte muß publik gemacht werden, damit alle
Menschen aneinander Dankbarkeit
üben.
Fab.52
Der Löwe und das
kluge Pferd
Wer nichts kann, verrät sich selber, wie uns die
nachstehende Fabel berichtet.
Ein starker Löwe sah ein Pferd auf einer Wiese weiden. Um
dieses bequem täuschen zu
können, näherte er sich ihm wie ein Freund und gab sich als
Arzt aus. Das Pferd
erkannte den Betrug, verweigerte jedoch trotzdem nicht den
angebotenen Dienst.
Schließlich kam ihm geistesgegenwärtig ein Einfall. Es hob
den Fuß und gab vor, in einen
Dorn getreten zu sein. "Bruder", rief es, "steh mir bei! Wie
froh bin ich, daß du gerade
vorüberkommst! Schaffe mir Erleichterung, weil ich in einen
Dorn getreten bin."
Geradezu demütig kam der Löwe herzu und verbarg seine
Hinterlist. Aber das Pferd
ließ ihn alsbald seine harten Hufe spüren. Da fiel der Feind
und blieb für längere Zeit
besinnungslos liegen. Doch als er wieder zu sich kam, war
von dem Pferd nirgends mehr
etwas zu sehen. Da merkte der Löwe, daß er an Kopf und
Gesicht und daß er am
ganzen Körper verletzt war, und er sprach: "Mit Recht habe
ich das erduldet, da ich sonst
immer wie ein Metzger daherkam, während ich diesmal
trügerisch als Freund und als Arzt
näherte, der ich doch, wie gewohnt, als Feind hätte kommen
müssen."
Deshalb sage ich allen, die das hören: Sei, was du bist, und
lüge nicht!
Fab.53
Das hochmütige
Pferd und der Esel
Eine Fabel, die von den Zeit und Glücksumständen handelt,
wollen wir jetzt hören.
Die sich glücklich wissen, sollen niemandem Unrecht tun und
sich daran erinnern, daß alles,
was vom Glück abhängt, zweifelhaft ist, wovon die folgende
Fabel berichtet.
Ein Pferd, das mit goldenem und silbernem Zaumzeug
geschmückt und mit Sattel und
prächtiger Schabracke hinreichend aufgeputzt war und von
Jugendkraft strotzte,
begegnete an einer Wegenge einem Esel, der von weit her
seine Last trug. Und weil er,
ermüdet von der Reise, dem Pferd beim Vorübergehen erst spät
den Weg freigegeben
hatte, fuhr dieses ihn an: "Ich muß schwer an mich halten;
sonst würde ich dir mit
meinen Hufen die Knochen brechen, weil du bei unserer
Begegnung nicht zurückgewichen
oder wenigstens stehengeblieben bist, bis ich vorbei war."
Über so viel Anmaßung erschrocken, verstummte der arme Esel.
Es verging nicht lange Zeit, da das Pferd abgeritten, und
weil es keine ausreichende
Versorgung und Pflege hatte, magerte es ab. Sein Herr gab
Befehl, es aufs Landgut zu
bringen, damit es Mist auf die Felder führe. Es mußte
bäuerliches Geschirr annehmen
und ging mit schwerer Last über Saumpfade. Unser Esel, der
auf einer Wiese weidete,
erkannte das jetzt unglückliche Pferd und plärrte es an:
"Was hat dir nun deine kostbare
Aufmachung genützt, die dich so anmaßend machte? Jetzt gehst
auch du bloß der
gleichen Landarbeit nach wie ich; bist du nun vielleicht
auch noch frech?"
Es mahnt diese Geschichte, es möge niemand, wenn er in der
Macht steht, andere
einschüchtern.
Fab.54
Die
Fledermaus im Krieg der Tiere
Über doppelzüngige Menschen hat Äsop die folgende Fabel
abgefaßt.
Wer sich zwei Parteien unterwürfig zeigt, ist für die eine
wie für die andere unwillkommen
und wird sich dafür selbst die Schuld geben müssen.
Die Vierfüßler führten mit den Vögeln einen großen Krieg,
und keine Seite wollte der
anderen nachgeben, sondern beide kämpften tapfer und zogen
den Streit in die Länge.
Die Fledermaus aber war sich im Zweifel und fürchtete
schwere Zwischenfälle. Weil nun
die Streitmacht der Vierfüßler mächtig und überlegen schien,
begab sie sich zu diesen als
den vermeintlichen Siegern. Plötzlich kam der Adler auf
Mars' Rechte geflogen; darauf
schüttelte er sein Gefieder und machte gemeinsame Sache mit
den Vögeln.
Dadurch erlahmten die Vierfüßler, und der Sieg stand bei den
Vögeln. Schließlich kehrten
Vögel wie Vierfüßler zum früheren Friedenszustand zurück.
Die Fledermaus aber wurde,
weil sie die Ihren im Stich gelassen hatte, durch den Spruch
der Vögel dazu verdammt,
für alle Zeit das Licht zu meiden, und man beraubte sie
ihrer Federn, so daß sie nun des
Nachts nackt herumfliegen muß.
So muß es denen ergehen, die sich auf die Seite anderer
schlagen und ihre eigenen
Leute im Stich lassen.
Fab.55
Die Nachtigall
und der Habicht
Wer anderen nachstellt, muß selber fürchten, Opfer der
eigenen Bosheit zu werden,
wie die folgende Fabel beweist.
Als sich der Habicht im Nest der Nachtigall niederließ, um
dem Hasen aufzulauern, fand
er dort die kleinen Jungen. Überraschend kam die Nachtigall
dazu und bat den Räuber,
ihre Jungen zu verschonen. "Ich will deinem Wunsch
entsprechen", antwortete der,
"wenn du mir etwas Schönes vorsingst". Da begann die
Nachtigall, obgleich ihr die Lust
fehlte, zu singen, durch Furcht und Angst genötigt und
voller Schmerz. Der Habicht,
der wider Erwarten auf Beute gestoßen war und diese nicht
preisgeben wollte,
sagte nur: "Du hast nicht gut gesungen", ergriff eines der
Jungen und begann, es zu
verspeisen. Von der gegenüberliegenden Seite kam ein
Vogelsteller dazu, der legte ohne
viel Aufhebens seine Rute aus und zog den Habicht, der in
dem Leim festklebte,
zur Erde herunter.
So muß, wer anderen nachstellt, befürchten, selber
geschnappt zu werden.
Fab.56
Der Fuchs verrät den
Wolf
Guten und Bösen hilft das Glück; wem es aber nicht hilft,
auf den ist es neidisch.
Wer gegen die vom Glück Begünstigten Neid im Herzen hegt,
den bringt nachher die
eigene Bosheit zu Fall. Gegen solche Leute hat unser
Erzähler die nachfolgende
Geschichte gerichtet.
Der Wolf hatte mit der Zeit reiche Beute in seinem Bau
zusammengetragen, um davon
mehrere Monate exquisit leben zu können. Kaum hatte der
Fuchs davon erfahren,
als er an dem Wolfsbau erschien und mit heuchlerischer
Stimme sprach: "Warum nur
habe ich dich so viele Tage nicht gesehen? Ich war traurig
darüber, auch weil du mit
mir keine Streifzüge unternommen hast." Ihm entgegnete der
Wolf, der den Neid des
Fuchses durchschaute: "Nicht weil du über mich beunruhigt
wärest, bist du gekommen,
sondern um etwas zu stehlen. Ich lege keinen Wert auf deinen
Besuch; denn ich weiß,
daß du etwas im Schilde führst."
Über diese Worte höchst erzürnt, begab sich der Fuchs zu dem
Schafhirten. Wirst du es
mir danken", fragte er ihn, "wenn ich dir noch heute den
Feind deiner Herde ausliefere,
daß du darum keine Sorge mehr zu haben brauchst?" – "Ich bin
zu Gegendiensten
bereit", erwiderte der Hirt, "und werde dir zur Verfügung
stehen, wenn du einen Wunsch
hast." Da verriet der Fuchs den eingeschlossenen Wolf. Der
Hirt durchbohrte ihm mit
dem Jagdspieß und der Rivale sättigte sich an dem fremden
Gut. Nicht viel später freilich
traf er selber auf den Jäger. Als ihn dessen Hunde gepackt
und zerrissen hatten, rief er
aus: "Ich habe schon schlecht gehandelt, und entsprechend
gehe ich zugrunde, weil ich
einem anderen weh tat."
So müssen auch die Menschen sich davor fürchten, anderen
Schaden anzutun.
Fab.57
Der eitle Hirsch
Mitunter loben wir das, was unnütz, und tadeln wir das, was
gut und höchst notwendig
ist. Das bezeugt Äsops folgende Fabel.
Ein Hirsch, der aus einer Quelle trank und sein großes
Geweih erblickte, lobte dieses über
die Maßen, dagegen tadelte er die Schenkel als zu dünn. Als
dieser Hirsch sich wieder an
die Quelle begab, vernahm er plötzlich die Stimme des Jägers
sowie das Gekläff der
Hunde. Durch Flucht über das Feld, so hört man, vermochte
sich der Hirsch zunächst den
Doggen zu entziehen. Sowie ihn aber der Wald aufgenommen
hatte, gab ihm die Größe
seines Geweihs den Jägern preis. Den Tod vor Augen, sprach
er: "Was mir von Nutzen
war, habe ich getadelt, und gelobt, was mir trügerisch
wurde."
So loben auch wir oft das Unnütze und tadeln das Gute.
Fab.58
Venus und die Götter
Über die Eigenschaften der Frauen hat der Erzähler diese
Fabel erdichtet.
Von den Göttern und Göttinnen lobte Juno die Keuschheit und
versuchte zu überzeugen,
daß es besser sei, wenn eine Frau mit nur einem Manne
verheiratet sei und sich mit
dem ihrigen bescheide. Da trug Venus, um zu scherzen,
Aussprüche von Hennen vor.
Als sie eine geduldige, verschwiegene Henne gefragt habe,
wieviel sie, um satt zu
werden, brauche, habe die geantwortet: "Was ich bekomme, ist
mir reichlich genug,
und trotzdem scharre ich." Venus nun habe dieser Henne in
aller Gegenwart gesagt:
Damit du nicht scharrst, gebe ich dir einen Scheffel
Weizen." Doch die Henne erwiderte
der Göttin: "Und wenn du mir die ganze Scheune aufmachst,
ich werde trotzdem
scharren." Da habe Juno gelacht über das, was Venus von der
Henne zu erzählen wußte.
Von daher erkannten die Götter, daß es den Frauen ähnlich
ergeht. So fing denn
Jupiter an, sich vielen Frauen zu nähern, und keine versagte
sich dem Zudringlichen.
Fab.59
Die Witwe und der
Soldat
Keusch ist die Frau, welche dem ungestümen Liebhaber nicht
nachgibt. Darüber äußert
sich der Verfasser dieser Sentenz in seiner Fabel
folgendermaßen.
Eine Frau, die ihren Gatten verloren hatte, begab sich zu
dem Mausoleum, in welchem
der Gemahl beigesetzt war, um dort ihre Trauertage zu
verbringen.
Da geschah es, daß einer, weil er sich vergangen hatte, nach
dem Gesetz das Urteil
empfing, am Kreuze aufgehängt zu werden. Ihm wird ein Soldat
beigegeben, um zu
verhindern, daß die Angehörungen des Nachts den Leichnam
beiseite brachten.
Bei seinem Wachdienst überkam den Soldaten der Durst, er
begab sich infolgedessen zu
dem Mausoleum, bat um ein bißchen Wasser, empfing es, trank
es und machte sich auf
den Heimweg. Als er aber der Frau gewahr wurde, wendete er
sich um und spendete ihr
Trost. So geschah es ein zweites und ein drittes Mal.
Während er nun des öfteren von der Freundin gerufen wurde,
entwendete man den
Leichnam jenes, der am Kreuze hing. So mußte der
zurückkehrende Soldat den Toten
vermissen; erschrocken flüchtete er sich zu der Frau, warf
sich ihr zu Füßen und klagte:
"Was soll ich tun, was machen?" jammerte er. "Komm mir zu
Hilfe, dich bitte ich um
Rat!" Schließlich erbarmte sie sich des Soldaten, hob den
Leichnam des Gatten von
seinem Platze auf und befestigte ihn des Nachts an dem
Kreuz.
Die heimliche Tat blieb verborgen. So konnte dank solchen
Erbarmens der Soldat seinem
Dienste gerecht werden, die Frau dagegen errötete nicht
angesichts ihrer Dienstleistung,
und sie, die einst keusch gewesen war, ließ doppeltes
Verbrechen zu.
Es sollen die Toten Grund haben zu trauern und die Lebenden
Grund haben zu fürchten.
Fab.60
Die Dirne und der
Jüngling
Über die Dirnen hat uns der Erzähler die folgende Geschichte
zu berichten, wie nämlich
diese unverschämten Weiber die Männer absichtlich
hereinlegen.
Eine bestimmte Dirne war wahrhaft gemeingefährlich. Einmal
schmeichelte sie einem
jungen Mann, dem sie schon öfter Unrecht getan hatte, und da
jener sich ihr wegen des
Geschlechtsverkehrs leicht ergeben hatte, wandte sich
schließlich das Weib mit folgenden
Worten an ihn: "Mag sein, daß viele mit Geschenken um mich
bemüht sind,
ich jedenfalls liebe dich und habe dich sehr gern." Und
obwohl der junge Mann daran
denken mußte, wie oft er von ihr hintergangen worden war,
gab er ihr trotzdem
freundlich Antwort: "Auch ich, mein Stern, mag dich leiden,
nicht weil du mir die Treue
hältst, sondern weil du mir angenehm bist." So foppten sie
einander mit Worten.
Denn die Männer sind einfältig, und gar wenn die Weiber sie
nackt antreffen, plündern sie
sie aus.
Fab.61
Äsop und der wilde Sohn
Manche muß man in jungen Jahren zähmen, weil es bei den
Größeren schwierig ist.
Ein Vater hatte einen wilden Sohn; der blieb alle Tage
draußen, und die Sklaven erhielten
seinetwegen Prügel. Dazu äußerte sich unser Erzähler in
einer Fabel: "Ein Bauer schirrte
ein Kalb mit einem älteren Rind zusammen. Da versuchte das
Kalb, mit der Ferse und mit
den Hörnern sich das Joch vom Halse zu streifen. Als er
dadurch das Rind verärgerte,
sagte der Bauer zu diesem: "Nicht des Arbeitens wegen habe
ich euch zusammengebunden; vielmehr wünsche ich die Zähmung
des Jüngeren. Hat der nämlich erst einmal durch
Fehltritte und Hornstöße jemanden verletzt, so wird man ihn
mit Steinen und Knüppeln
kleinkriegen."
Also muß jeder seine jüngeren Söhne in Schach halten.
Fab.62
Die Schlange und die
Feile
Über zwei Bösewichte hat der Erzähler die folgende
Geschichte gemacht. Der Böse tut
dem Schlimmeren nichts an, der Ungerechte setzt dem
Ungerechten nicht zu, und der
Hartherzige klebt nicht an dem Hartherzigen.
In der Werkstatt eines Meisters kam einstens eine Schlange.
Und während sie nach
etwas Eßbarem suchte, fing sie an, die Feile zu benagen. Da
wandte sich die Feile
lachend an die Schlange: "Möchtest du, Böse, vielleicht
deine Zähne beschädigen?
Ich bin es nämlich, die daran gewöhnt ist, jedes Eisen zu
benagen. Ist aber etwas rauh,
so mache ich es durch mein Reiben glatt, und wenn ich eine
Ecke behandle und es ist
da etwas, so schneide ich es ab."
Demgemäß soll man mit einem, der leidenschaftlicher ist,
nicht streiten.
Fab.63
Die Schafe und die Wölfe
Den Schutzherrn und Patron darf man nicht im Stich lassen.
Darüber hat Äsop die
folgende Geschichte erzählt.
Die Schafe und die Wölfe führten einen so heftigen Krieg
miteinander, daß kein Part dem
anderen nachgeben wollte. Die Schafe waren in der Überzahl,
und zu ihnen standen die
Hunde und die Widder. So schien der Sieg den Schafen zu
gehören.
Das wußten die Wölfe. Darum schickten sie Gesandte ab, die
um Frieden bitten sollten
unter der Bedingung, daß die Schafe die Hunde als Geiseln
stellten und sie ihrerseits die
Wolfsjungen erhielten. So geschah es, und man bestätigte
eidlich die Abmachungen.
Nachdem bei den Schafen Frieden eingetreten war, fingen
einmal die Wolfsjungen an zu
heulen. Die Wölfe, die daraus schlossen, daß ihre Jungen
gequält würden, kamen
eilends von überallher zusammen und behaupteten, die Schafe
hätten den Frieden
gebrochen. Mit dieser Begründung begannen sie die Schafe zu
zerfleischen, denen kein
Schutzherr Hilfe gewährte und die kein Patron verteidigte.
Fab.64
Die Bäume und der Mensch
Dem Feinde Hilfe zu leisten kann den eigenen Tod bedeuten,
wie die nachfolgende
Fabel beweist.
Nachdem er sich eine Axt angefertigt hatte, forderte der
Mensch von den Bäumen,
daß sie ihm dazu den Stiel lieferten aus einem Holz, das
fest sein müsse. Einstimmig
wiesen sie auf das Holz des Ölbaums. So nahm der Mensch den
Stiel, befestigte ihn an
der Axt und begann bedenkenlos Zweige und dicke Stämme und
alles, was ihm gut
dünkte, abzuhauen. Da sprach die Eiche zur Esche: "Mit
vollem Recht müssen wir all das
erdulden; warum haben wir voller Verblendung unserem Feind
auf sein Ersuchen den
Stiel in die Hand gegeben?"
Also soll, wer klug bedenkt, dem Feind nichts zur Verfügung
stellen.
Fab.65
Der Hund und der Wolf
Wie angenehm die Freiheit ist, erzählt in Kürze die Fabel
unseres Autors.
Jede Freiheit ist der Inbegriff, recht zu handeln. Denn bei
den Freien herrscht Willkür,
bei den Sklaven Tugend und Ruhm. Leistungsstark sehen wir
nämlich häufig die Sklaven
und ohne Wirkung die Freien.
Ein Beispiel: Als der Hund und der Wolf einander im Walde
begegneten, sprach der Wolf
zum Hund: "Woher, Bruder, bist du so schmuck und
wohlgenährt?" Der Hund antwortete
dem Wolfe: "Weil ich zu Haus Wache halte gegen Räuber, die
vorüberkommen könnten.
Nirgendwo kann jemand eindringen, und sollte zufällig des
Nachts ein Dieb kommen,
so zeige ich es an. Man reicht mir Brot, mein Herr gibt mir
Knochen, und die anderen
machen es ähnlich. Die ganze Familie hat mich lieb, und man
wirft mir hin, was ein jeder
über hat. Alles, was nicht aufgegessen wird, bekomme ich;
darum ist mein Leib so prall.
Will ich mir etwas zugute tun, ruhe ich unter dem Dach.
Wasser habe ich im Überfluß.
So führe ich ein geruhsames Leben."
Der Wolf erwiderte darauf: "Gut geht es dir, lieber Bruder;
ich wünschte, es würde auch
mir zuteil, daß ich geruhsam mich nähren und ein besseres
Leben unter einem festen
Dache führen könnte." Dazu sagte der Hund: "Wenn du willst,
daß es dir gut geht,
so komm mit mir; es besteht kein Grund zur Furcht."
Als nun die beiden miteinander des Weges zogen, sah der
Wolf, wie der Hals des Hundes
von der Kette durchgerieben war. "Was ist das, Bruder?"
fragte er. "Welches Joch hat dir
den Hals zerrieben?" Der Hund erklärte: "Weil ich recht
scharf bin, werde ich tagsüber
festgelegt und nachts losgebunden; im Hause habe ich freien
Auslauf und kann schlafen
wo ich will."
Da rief der Wolf: "Ich habe es nicht nötig, jene Dinge zu
genießen, die du gelobt hast.
Ich will leben, was immer auch auf mich zukommen mag. Frei
streife ich herum, wo es
mir gefällt, keine Kette hält mich fest, keine Überlegung
behindert mich. Offen stehen mir
die Wege im freien Feld. Zugang habe ich zu den Bergen,
nichts brauche ich zu fürchten.
Von der Herde nehme ich meine Kostprobe, und die Hunde
täusche ich mit meinen Einfällen.
Leb du so, wie du es gewöhnt bist, ich führe mein Leben nach
meiner Weise."
Fab.66
Der Magen und die
Glieder
Wer aus Dummheit seine Angehörigen im Stich läßt, der soll
wissen, daß er zuerst
sich selber täuscht.
Niemand vermag etwas ohne die Seinen; dazu dieses Beispiel:
Von den Körperteilen, den Händen und Füßen, erzählt man, sie
seien ärgerlich geworden
und hätten dem Magen die Nahrung verweigert, deshalb, weil
er sich ohne jegliche Arbeit
jeden Tag neu fülle. Er selbst sitzt bloß müßig dabei. Weil
aber den Magen hungerte,
erhob er ein Geschrei. Die Körperteile indes wollten ihm
einige Tage hindurch nichts
geben. Dadurch, daß der Magen fasten mußte, erschlafften
alle Glieder. Später jedoch,
als sie ihm wieder Nahrung zuführen wollten, versagte sich
der Magen; denn er hatte
schon alle Wege verschlossen. So gingen Glieder und Magen
zusammen vor Erschöpfung
zugrunde.
Die Fabel ermahnt die Diener zur Treue, weil sie dadurch
stark sind und auf Dauer
rechnen können.
Fab.67
Der Affe und der Fuchs
Über den Reichen und den Armen erzählt man diese Fabel.
Inständig bat der Affe den Fuchs, er möchte ihm doch von
seinem langen Schwanz ein
Stückchen abgeben, damit er seinen gar so häßlichen Hintern
darunter verbergen
könne. "Was hast du davon", meinte er, "wenn du dich nutzlos
mit solch einem langen
Schwanz belädst, den du bloß durch den Schmutz ziehst?" Doch
der Fuchs entgegnete:
"Ich wünschte, er wäre noch länger und noch größer und ich
könnte ihn nicht nur durch
den Schmutz, sondern auch über Felsen, Dornen und Kot
ziehen. Nur du sollst durch
meinen Schmuck nicht schöner werden!"
O du reicher Geizhals, dich schilt diese Geschichte, weil du
nicht das abgibst, was du im
Überfluß hast!
Fab.68
Der geprügelte Esel
Viele müssen selbst nach dem Tod noch Qual erleiden, wie die
folgende Geschichte
beweist.
Einst zog ein Kaufmann mit seinem Esel seine Straße, und
weil er rechtzeitig zum Markt
kommen wollte, schlug er mit Peitsche und Knüppel auf das
schwerbeladene Tier ein,
um der Geschäfte wegen schneller sein Ziel zu erreichen. Der
Esel aber sehnte den Tod
herbei, weil er meinte, wenigstens nach dem Tode ohne Plage
zu sein. Schließlich ging
er vor Abspannung und Entkräftung ein. Doch da machte man
sogleich aus seiner Haut
Trommeln und Siebe, auf die immerfort geschlagen wird, und
er, der da glaubte, nach
dem Tode frei von Plage zu sein, wird auch nach seinem
Hinscheiden noch geprügelt.
Fab.69
Der Hirsch im Kuhstall
Die da fliehen, sind nicht außer Gefahr, sondern werden
allenfalls durch Zufall
bewahrt, wie uns die nachstehende Fabel berichtet.
Ein Hirsch, den der Jagdlärm aufgescheucht und zittern
gemacht hatte, flüchtete sich,
um den Jägern zu entkommen, in den nächsten Gutshof und
begab sich in den Stall,
ohne den Kühen zu verhehlen, weswegen er gekommen war. Da
redete eine Kuh in an:
"Warum willst du hier in den Tod gehen? Der Wald hielt dich
verborgen, ja du würdest
besser die Fluren durcheilen als hierherkommen." Doch der
Hirsch entgegnete flehentlich:
"Verbergt mich nur für ein Weilchen. Wenn es dunkel wird,
kann ich ungeschoren überallhin
gehen." Und während er das sprach, versteckte er sich an
einem verborgenen Orte,
Als die Schweizer Heu und Laub und anderes Futter im Stall
stapelten, sahen sie den
Hirsch nicht, und auch der Meier, der alles beaufsichtigte,
wurde seiner nicht gewahr.
So dankte der Hirsch beredt den Kühen, daß sie ihn auf
seiner Flucht verborgen hielten.
Indes erwiderte ihm eine von diesen: "Wir werden dich schon
heil bewahren,
vorausgesetzt, daß er dich nicht sieht, der hundert Augen
hat; denn wird er auf dich
aufmerksam, so wird er dir sogleich das Leben nehmen."
Noch während die Kuh das zu dem Hirsch äußerte, trat
plötzlich der Herr ein, und weil er
letzthin hatte feststellen müssen, daß die Kühe infolge
Vernachlässigung abmagerten,
kam er herzu, um die Krippen zu besehen. Als er da
konstatieren mußte, daß diese leer
und das Futter gestapelt war, wurde er wütend auf die
Schweizer; während er selber in
das Laub greift, erblickt er plötzlich das Hirschgeweih.
"Was soll das?" schrie er und ruft
die Schweizer zu sich. "Woher kommt der Hirsch?" fragte er
sie. Doch die schwören alle
guten Glaubens, daß sie es nicht wüßten.
Da freute sich der Herr über den Hirsch, und keiner kommt,
nach diesem zu suchen.
So ergötzt er sich mit den Seinen für ein paar Tage an
Hirschbraten.
Die Fabel zeigt, das der Herr in allen Dingen mehr zu
erblicken vermag.
Fab.70
Der Affe am
Königshof des Löwen
Vor Tyrannen zu reden ist eine Strafe, vor ihnen zu
schweigen eine Marter. Das beweist
die folgende Fabel.
Als die Tiere den Löwen als den Stärksten zum König gemacht
hatten, beschloß dieser,
im Interesse seines guten Rufes der Gewohnheit der Könige zu
folgen, auf seine früheren
Schandtaten zu verzichten und seine Lebensformen zu ändern.
Keinem Tier, schwor er,
etwas zuleide zu tun, nur unblutige Speise zu sich zu nehmen
und sein Wort heilig und
treu zu wahren.
Es dauerte nicht lange, da reute ihn die Sache, und weil er
seine Natur nicht ändern
konnte, nahm er seine Opfer beiseite und fragte sie
hinterhältig, ob er aus dem Munde
rieche. Ob das nun einer bejahte oder einer verneinte, er
zerriß sie alle, daß er bald
vom Blute troff.
Nachdem das mit vielen so geschehen war, rief er den Affen
zu sich und fragte ihn,
ob er ein stinkendes Maul habe. Der erwiderte, sein Mund
dufte süßer als Zimt und wie
ein Götteraltar. Der Löwe errötete angesichts dieses
Lobredners und tat ihm nichts.
Um ihn aber zu treffen, umging er sein Gelöbnis und suchte
nach einer List: er stellte
sich, als sei er erschöpft. Fortan kamen Ärzte, um ihm den
Puls zu fühlen, und als sie
diesen gesund fanden, rieten sie ihm zu einer Speise, die
leicht sei und ihm zwecks
guter Verdauung den Ekel nehme.
Weil nun aber Königen alles erlaubt ist, rief der Löwe:
"Noch unbekannt ist mir das
Affenfleisch, ich möchte es probieren." Kaum gesagt, wird
sogleich der schönrednerische
Affe getötet, damit der Löwe rasch zu seiner Speise käme.
Die gleiche Pein trifft eben den, der redet, wie den, der
nicht redet.
Fab.71
Der Fuchs und die
Trauben
Mit Worten verheißt ein Geschäft, wer es nicht mit Taten
kann. So erzählt diese Fabel.
Hungrig erblickte der Fuchs eine Traube, die noch oben am
Weinstock hing. Zu ihr wollte
er gelangen, doch sosehr und sooft er sich auch reckte,
konnte er sie trotzdem nicht
erreichen. Da sprach er, so ist es überliefert, voller Zorn:
"Ich mag dich nicht, du bist
herb und unreif." Und so. als habe er sie nicht anrühren
wollen, trollte er sich.
Dergestalt demonstrieren diejenigen, die mit ihren Kräften
nichts ausrichten können,
ihr Unvermögen und ihr Nichtwollen trotzdem mit Worten.
Fab.72
Das Wiesel und die
Mäuse
Daß einer mit Schlauheit vermag, wozu seine physischen
Kräfte nicht reichen,
darüber gibt uns die folgende Fabel eine kurze Belehrung.
Ein Wiesel, das schon alt geworden war und den Mäusen nicht
mehr folgen konnte,
wälzte sich im Mehl und verbarg sich an einem dunklen Ort in
der Absicht, im Kreise
Unschuldiger ohne eigene Anstrengung Beute zu machen. Da kam
eine arme, dumme
Maus, die dachte an ein Gras, und da war es schon um sie
geschehen, ohne Verschulden
und unverdient! Eine zweite wird auf gleiche Weise gefangen
und eine dritte ebenso.
Schließlich erschien eine betagte, vorsichtig gewordene
Maus, die sich mit allen
Mausefallen, Fanglöchern, Fallstricken und sonstigen
Täuschungsinstrumenten auskannte.
Als sie den Trick der Feindin bemerkte, sagte sie zu dieser:
– so erzählt man es sich
jedenfalls – "Du verführst die Mäuse und verschlingst die
Unschuldigen; mich, du Böse,
wirst du jedoch nicht fangen, denn ich kenne alle deine
Schliche."
Fab.73
Der Wolf und der
treulose Hirt
Wer blanke Worte führt und treulos ist, sündigt im Herzen,
wie es die folgende Fabel
berichtet.
Als der ruchlose Wolf einmal eilig vor einem Verfolger floh,
wurde einem Rinderhirten
sichtbar, in welche Richtung er lief und an welchem Orte er
sich verbarg. Von Furcht
erfüllt, flehte der Wolf den Hirten an: "Ich bitte dich bei
allen deinen Hoffnungen,
verrat mich nicht meinem Verfolger, dem - ich schwöre es dir
– ich nichts getan habe."
Der Angesprochene erwiderte: "Hab keine Angst und sorge dich
nicht. Ich werde ihm
sagen, du seist in die andere Richtung gelaufen."
Bald erschien der Verfolger und hieß den Hirten den Wolf
zeigen: "Du hast gesehen, daß
hierher der Wolf kam; mach mir kenntlich, wo er ist." Darauf
der Hirt: "Der Wolf war
schon hier, aber er ist nach links fort. Dort mußt du
weiterfragen." So sprach er, doch
mit den Augen wies er den Verfolger in die Richtung nach
rechts. Indes, jener verstand
den Wink nicht und ging eilig weiter.
So wandte sich der Hirt an den Wolf: "Welchen Dank werde ich
dafür haben, daß ich
dich verbarg?" Der Wolf jedoch entgegnete ihm: "Deiner Zunge
schulde ich Dank,
deinen betrügerischen Augen dagegen wünsche ich volle
Blindheit."
Diese Fabel tadelt die, deren Doppelzüngigkeit offenbar ist.
Fab.74
Juno und der Pfau
Was einem jeden verliehen ist, das möge er brauchen, wie es
uns die folgende Fabel
Äsops erzählt.
Zornig und verärgert erschien der Pfau vor Juno und führte
Beschwerde darüber, daß
die Nachtigall singe und sich in den menschlichen Gesängen
auskenne, während er diese
Gabe nicht besitze, sondern man ihn vielmehr verlache, wenn
er seine Stimme erhebe.
Um ihn zu trösten, spricht Juno ihn freundlich an: "Deine
Erscheinung übertrifft deine
Stimme und deine Figur die der Nachtigall. Die Farbe und der
Glanz eines Smaragdes
umfließt dich, keiner kommt dir gleich, es glitzert deine
Brust, und wie von Edelsteinen
leuchten dein Schwanz und dein Hals." Doch der Pfau
erwiderte Juno: "Was soll mir all
das? An Stimme bin ich unterlegen."
Darauf Juno: "Nach dem Spruch des Schicksals sind euch allen
von den Göttern jeweils
Teile zugewiesen worden. Du empfingst Glanz und Farbe und
Figur, der Adler die größere
Männlichkeit, die Nachtigall die Singstimme, der Rabe die
Wahrsagekunst,
die Ringeltaube ist immerfort traurig, der Kranich zeigt die
Jahreszeiten an, und im
Ölbaum nistet die Drossel, die Grasmücke hält sich an die
Früchte, die Schwalbe freut
sich des Morgensterns, nackt fliegt zu später Stunde die
Fledermaus, der Hahn kennt die
Stunde der Nacht, und ein jeder hat Überfluß an dem
Seinigen.
Du solltest darum nicht nach dem fragen, was dir die Götter
nicht gaben."
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