Fabelverzeichnis

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Scheich Saadi (Saadi von Schiras), geboren um 1200 n. Chr.,
war der Sohn eines angesehenen Geistlichen am Hof von Schiras.

Nach seinem Studium an der berühmten Hochschule Nezamiyeh führte Saadi ein jahrzentelanges unstetes Wanderleben, pilgerte mehrmals nach Mekka und reiste durch verschiedene Länder des Orients.
Das Alter verbrachte er in seiner Heimatstadt, wo er als Heiliger verehrt wurde und 1292 in einem Derwischkloster starb.

 
Geschichten aus dem »Rosengarten«.
 
Quelle:
Saadi/Hundertundeine Geschichte aus dem Rosengarten./Ein Brevier orientalischer Lebenskunst.

Herausgegeben von ©Piper Verlag GmbH. München/November 2004 /©1967 Manesse Verlag Zürich.
Auswahl und Übersetzung aus dem Persischen von ©Rudolf Gelpe.


»Erwarte Treue nicht von Nachtigallen, denn immer neuen Rosen will ihr Lied gefallen ..«

Mit dem »Rosengarten« hat der weise Dichterfürst Scheich Saadi ein Brevier
orientalischer Lebenskunst verfasst, einen Zitatenschatz für alle Lebenslagen, der bis
heute jedem Perser vertraut ist. In dieser Ausgabe sind die schönsten Anekdoten,
Geschichten und Weisheiten aus dem populärsten Werk der klassischen persischen
Literatur versammelt. Die Geschichten des berühmten Sufimeisters handeln vom Wert
der Genügsamkeit und von den Vorteilen des Schweigens, sie erzählen von der Liebe,
von der Jugend und vom Alter, von der Erziehung und vom richtigen Umgang mit den
Menschen. Die Anekdoten spiegeln nicht nur die Lebensweisheit eines großen persischen
Dichters, sondern bilden zugleich eine kleine Einführung in die Lehre des Sufismus.
Mit seinem klugen Witz und seinen anschaulichen Bildern ist »der Rosengarten« bis heute
eine faszinierende Lektüre.

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Von der Versuchung

Jemand stellte einem Gelehrten die folgende Frage: »Wenn es einem Verliebten gelungen
ist, alle äußeren Hindernisse zu überwinden und mit einem Mondgesicht unter vier Augen
zusammen zu sein; wenn die Türen verschlossen und die Blicke der Wächter geschlossen
sind; wenn dafür die Leidenschaft erwacht und der Brand der Sinne entfacht ist – kurz,
wenn, wie die Araber sagen: >Die Dattel gereift ist, und der Gärtner verreist ist<,
hältst du es da für möglich, daß einer dennoch der Versuchung widersteht, die schöne
Frucht sich zu pflücken?!«
Der Gelehrte überlegte und erwiderte sodann: »Auch wenn er verzichtet und die Dattel
nicht raubt, so gibt es doch niemand, der ihm glaubt:

Mag auch ein Mensch sich selber widerstehen,
den bösen Zungen wird er nie entgehen...«

Die gute Lüge

Einst, so habe ich gehört, sollte auf Befehl des Padeschah ein Gefangener getötet
werden. Da begann dieser Verurteilte in seiner Verzweiflung den König zu lästern
und zu beschimpfen — wie ja gesagt worden ist:

Sein Innerstes verrät,
wem der Tod vor Augen steht.

»Was redet er da?« verlangte der Schah zu wissen. Einer der Wesire, ein Mann,
in dessen Herzen die Güte wohnte, erwiderte: »Er sagt, o Majestät, daß Gott mit
jenen ist, die ihren Zorn überwinden und den Menschen vergeben...«
Darauf erbarmte sich der Herrscher auch wirklich des Verurteilten und begnadigte
ihn. Ein anderer Minister, der das gehört hatte und in allem das Gegenteil jenes ersten
war, ergriff schnell Gelegenheit und Wort und erklärte:
»Es steht unsresgleichen nicht wohl an, in der Gegenwart von Majestäten etwas anderes
zu äußern als nur die reine Wahrheit, und in Wahrheit hat dieser Kerl da die Majestät mit
Schmähreden beleidigt!«
Was geschah hierauf? Änderte der Schah seine Meinung von neuem? Nun, er verzog
wohl das Gesicht, doch galt sein Ärger nicht dem ersten, sonder dem zweiten Wesir,
und er sprach:
»In diesem Falle ist mir die Lüge lieber gewesen als die Wahrheit; denn diese wurzelt
in Böswilligkeit, während jene Gutes stiften wollte. Und es sagten doch die Weisen:

Besser ist die wohlgemeinte Lüge,
als daß Wahrheit böse Wunden schlüge.«

Von einem reichen Geizhals

Ein Alter, der ebenso reich wie geizig war, hatte einen kranken Sohn. Als sich der
Zustand des Jünglings nicht bessern wollte, rieten wohlmeinende Freunde dem Vater:
»Es muß etwas geschehen! Vielleicht hilft es, wenn du um seinetwillen den ganzen
Koran einmal durchliesest; oder aber, wenn du ein Opfertier schlachten lässest und
das Fleisch unter die Armen verteilst — wer weiß, ob dann Allah nicht ein Einsehen hat
und deinem Jungen Gesundheit schenkt?«
Der Geizhals dachte über diesen Vorschlag nach und erwiderte schließlich: Dann ist es
wohl besser, wir lesen den Koran, denn der liegt im Haus, doch weit ist der Weg zur
Herde hinaus — und das Nahe ist doch dem Fernen vorzuziehen!«
»Nun ja«, sprach da ein beherzter Mann, »es war zu erwarten, daß er so wähle; denn der
Koran sitzt ihm nur auf der Zunge, das Geld inmitten der Seele:

Weil es nichts kostet, beugt er zum Gebet den Rücken,
doch seine Börse will er niemals zücken;
wirfst du ein Goldstück in den Schmutz, wird er sich bücken,
verlangst du ein Almosen: schnell sich drücken!«

Anuschirwan und das Salz

Als man einst, so wird erzählt, Nuschirwan dem Gerechten auf der Jagd ein Stück
Wildbret briet, fehlte es an Salz, und man schickte deshalb einen Burschen in ein Dorf,
um welches zu holen. Anuschirwan sagte ihm: »Bezahle das Salz, damit nicht ein Gesetz
daraus entstehe und das Dorf zugrunde gehe.«
Als man ihn fragte, welches Unheil denn aus dieser Kleinigkeit entstehen könne,
antwortete er: »Die Grundlage der Ungerechtigkeit in der Welt ist gering gewesen,
aber jeder später Gekommene hat etwas dazugetan, bis sie zu diesem Übermaß
angewachsen ist; denn:

Ißt einen Apfel von des Bauern Baum der Schah,
sind gleich schon seine Krieger, den Baum zu fällen, da.
Nimmt sich der Sultan mit Gewalt fünf Eier,
brät tausend Hühner sich sein Heer zur Feier...«

Meister und Schüler

Ein Ringer hatte es in seiner Kunst bis zur höchsten Vollkommenheit gebracht;
er verstand dreihundertundsechzig vortreffliche Kunstgriffe und konnte jeden Tag einen
anderen anwenden.
Zufällig fühlte er in einem Winkel seines Herzens eine Neigung zu der Schönheit eines
seiner Schüler; er lehrte ihn dreihundertneunundfünfzig Kunstgriffe, nur einen einzigen
wollte er ihn nicht lehren, indem er ihn als etwas Unbedeutendes wegließ.

Der Jüngling brachte es in der Kunst und der Körperkraft zur höchsten Vollkommenheit,
und niemand war imstande, es mit ihm aufzunehmen, so daß er endlich in Gegenwart
des Sultans äußerte: »Den Vorzug, welchen mein Meister vor mir hat, verdankt er
seinem Alter und seinem Unterrichte, sonst stehe ich an Kraft nicht unter ihm und in der
Kunst komme ich ihm gleich.«
Dem König mißfiel diese ungeziemende Rede; er befahl, sie sollten miteinander ringen.
Ein geräumiger Platz wurde dazu bestimmt, die Mächtigen des Reiches und die großen
des Hofes waren als Zuschauer zugegen. Der Jüngling trat gleich einem trunknen
Elefanten mit einer Heftigkeit auf, daß er einen ehernen Berg hätte von seiner Stelle
reißen können. Der Meister aber, welcher wußte, daß der Jüngling ihm an Kraft überlegen
war, faßte ihn mit jenem besonderen Kunstgriff, den er vor ihm verborgen gehalten hatte
und den der Jüngling nicht abzuwehren verstand; er hob ihn mit beiden Händen von der
Erde auf, hielt ihn über seinem Kopfe in der Schwebe und warf ihn dann auf die Erde.
Die Zuschauer erhoben ein Geschrei; der König ließ dem Meister Geld und Ehrenkleid
geben, dem Jüngling dagegen gab er einen derben Verweis, daß er vorgeben, er könne
es mit seinem eigenen Meister aufnehmen, das aber nicht durch die Tat bewährt hatte.

»O Herr«, erwiderte der Jüngling, »der Meister hat mich nicht durch Kraft und Gewalt
besiegt, sondern eine Kleinigkeit war noch in der Ringkunst übrig geblieben, die er mir
vorenthalten, und durch diese Kleinigkeit hat er heute gesiegt.«
Der Meister aber sagte:
»Eben für einen solchen Tag hatte ich jenen Griff aufgespart — für den Fall,
daß geschehen würde, was ja auch richtig geschehen ist.
Wer wollte mich dafür tadeln? Haben denn nicht die Weisen gesagt: >Gib nie dem Freund
so viel Macht, daß er als Feind dich besiegt in der Schlacht<?
Hast du nicht gehört, was jener sagte, der von seinem Schüler schmachvoll behandelt wurde?
So hör denn:

Entweder gab es Treue nie in dieser Welt,
oder keiner lebt mehr, der sie hält.
Den ich einst treffen lehrte mit dem Pfeile,
schoß ihn auf mich nach einer kurzen Weile...«

Die Lehrer der Höflichkeit

Man fragte den weise Loqman: »Wer hat dich gelehrt, so höflich zu sein?«
»Die Unhöflichen«, gab er zur Antwort, »denn ich habe mir stets gemerkt, was mir am
Benehmen der anderen mir gegenüber mißfallen hat; und dann habe ich mich gehütet,
meinen Mitmenschen dasselbe zuzufügen...«

Kein Wort, und sei es noch so leicht gefallen,
wird echolos im klugen Sinn verhallen.
Doch Weisheit, hundertfach dem Dummkopf vorgelesen,
verläßt wie Scherz sein Ohr, wie nie gewesen.

Wer ist ein Heiliger?

Ein Padeschah sah einer ebenso wichtigen wie schwierigen Unternehmung entgegen.
Da legte er vor Gott ein Gelübde ab und versprach, daß er eine große Geldsumme an
Männer von heiligem Lebenswandel verschenken werde, falls ihm bei seinem Vorhaben
Erfolg beschieden sei. Und sieh da! Das Glück war dem König hold; und als er nun sein
Ziel erreicht und sein Gemüt sich beruhigt hatte, gedachte er auch wieder jenes Gelübdes.
Was er damals in der Stunde der Not und Bedrängnis gelobt hatte, dem wollte
er jetzt im Triumph nicht untreu werden.
So füllte denn unser Schah einen großen Beutel bis oben mit Silberstücken und übergab
diesen Schatz einem seiner vertrauten Pagen mit der Weisung, ihn unter die heiligen
Männer in der Stadt zu verteilen. Dieser Page nun war ein Jüngling, der für seinen hellen
Kopf und gewitzten Sinn bei jedermann bekannt war. Was tat er, um seinen Auftrag
getreu zu erfüllen? Wohl streunte er den lieben langen Tag durch alle Gassen und
Winkel; doch als er um die Abendzeit wieder im Königspalast vor seinem Herrn erschien,
war der randvolle Beutel noch immer in seiner Hand und schien auch kein bißchen
leichter und leerer geworden...
Der Page küßte ehrfurchtsvoll das ihm anvertraute Gut, legte es der Majestät zu Füßen
und erklärte: »Wie sehr ich auch in jeder Ecke dieser Stadt, treppauf und treppab,
gesucht und geforscht habe — heilige Männer sind mir doch nirgends unter die Augen gekommen!«
»Was sind das für seltsame Märchen, die du mir da erzählst«, rief der Schah, »es soll
hier nicht weniger als vierhundert solche Männer geben, so hat man mir gesagt!«
»O Weltbeherrscher«, erwiderte da der Jüngling schlagfertig, »das kann doch nicht
wahr sein; denn wer ein heiliger Mann ist, der nimmt kein Geld an, und wer es also
annimmt, der ist kein heiliger Mann...«
Da mußte der König laut lachen. Er wandte sich seinen Höflingen zu und sprach:
»Wie lieb und teuer mir selbst auch die Gottesmänner sind, so übel scheint ihnen dieser
Frechdachs da gesinnt — und zu allem Überfluß ist, was er sagt, auch noch richtig!«

Wenn dein Gold und deins Silberlinge
ein frommer Gottesmann begehrt,
so suche einen frömmern dir,
der Gott und nicht dein Geld verehrt.

Papagei und Rabe

Ein Papagei wurde mit einem Raben zusammen in den gleichen Käfig gesperrt.
Er war darüber keineswegs erfreut, sondern beklagte sich über die Häßlichkeit seines
Gefährten und rief aus: »Zu welch abscheulichem Anblick bin ich Armer verdammt!

Ach, wäre von dem Kerl ich doch befreit
und er mir wie das Abendland vom Morgenland so weit!
Wer, Ungeheuer, neben dir erwacht,
dem wandelt sich der Morgenglanz in Nacht...«

So zeterte und schalt der Papagei ohne Unterlaß. Doch seltsam! Auch der Rabe war
mit seinem Schicksal alles andere als zufrieden. Statt die Gegenwart eines doch so
hübsch farbigen und gelehrt sprechenden Nachbarn als eine Ehre aufzufassen,
äußerte er im Gegenteil nur Ärger und Verdruß, rief die Allmacht Allahs an,
klagte Himmel und Weltlauf an und schimpfte so: »O Unstern, der mir solches Unheil
beschert! O könnte ich doch, wie es meiner würdig wäre, mit meinesgleichen eine
Gartenmauer entlang schreiten; aber statt dessen muß ich die Verse anführen:

Zwiefach dem frommen Mann die Haft mißfällt,
wenn man ihn dort zu Lumpenpack gesellt!

Ach, welche Sünde habe ich denn schon begangen, daß man mich dazu verurteilt,
die Gesellschaft dieses eitlen und einfältigen Gecken zu ertragen? Dieses bunten
Schwätzers, von dem ich sage:

Ja, würde man das Paradies dir geben,
so wünschte in der Hölle ich zu leben...«

Ich habe diese Fabel erzählt, damit du siehst und begreifst, daß nur Wesen der gleichen
Art sich liebhaben können. Vergiß nicht, daß derjenige, dessen Gesellschaft dir in der
Seele zuwider ist, auch die deine verabscheuen wird!