Von der Versuchung
Jemand stellte einem Gelehrten die folgende Frage: »Wenn es
einem Verliebten gelungen
ist, alle äußeren Hindernisse zu überwinden und mit einem
Mondgesicht unter vier Augen
zusammen zu sein; wenn die Türen verschlossen und die Blicke
der Wächter geschlossen
sind; wenn dafür die Leidenschaft erwacht und der Brand der
Sinne entfacht ist – kurz,
wenn, wie die Araber sagen: >Die Dattel gereift ist, und der
Gärtner verreist ist<,
hältst du es da für möglich, daß einer dennoch der
Versuchung widersteht, die schöne
Frucht sich zu pflücken?!«
Der Gelehrte überlegte und erwiderte sodann: »Auch wenn er
verzichtet und die Dattel
nicht raubt, so gibt es doch niemand, der ihm glaubt:
Mag auch ein Mensch sich selber widerstehen,
den bösen Zungen wird er nie entgehen...«
Die gute Lüge
Einst, so habe ich gehört, sollte auf Befehl des Padeschah
ein Gefangener getötet
werden. Da begann dieser Verurteilte in seiner Verzweiflung
den König zu lästern
und zu beschimpfen — wie ja gesagt worden ist:
Sein Innerstes verrät,
wem der Tod vor Augen steht.
»Was redet er da?« verlangte der Schah zu wissen. Einer der
Wesire, ein Mann,
in dessen Herzen die Güte wohnte, erwiderte: »Er sagt, o
Majestät, daß Gott mit
jenen ist, die ihren Zorn überwinden und den Menschen
vergeben...«
Darauf erbarmte sich der Herrscher auch wirklich des
Verurteilten und begnadigte
ihn. Ein anderer Minister, der das gehört hatte und in allem
das Gegenteil jenes ersten
war, ergriff schnell Gelegenheit und Wort und erklärte:
»Es steht unsresgleichen nicht wohl an, in der Gegenwart von
Majestäten etwas anderes
zu äußern als nur die reine Wahrheit, und in Wahrheit hat
dieser Kerl da die Majestät mit
Schmähreden beleidigt!«
Was geschah hierauf? Änderte der Schah seine Meinung von
neuem? Nun, er verzog
wohl das Gesicht, doch galt sein Ärger nicht dem ersten,
sonder dem zweiten Wesir,
und er sprach:
»In diesem Falle ist mir die Lüge lieber gewesen als die
Wahrheit; denn diese wurzelt
in Böswilligkeit, während jene Gutes stiften wollte.
Und es sagten doch die Weisen:
Besser ist die wohlgemeinte Lüge,
als daß Wahrheit böse Wunden schlüge.«
Von einem reichen Geizhals
Ein Alter, der ebenso reich wie geizig war, hatte einen
kranken Sohn. Als sich der
Zustand des Jünglings nicht bessern wollte, rieten
wohlmeinende Freunde dem Vater:
»Es muß etwas geschehen! Vielleicht hilft es, wenn du um
seinetwillen den ganzen
Koran einmal durchliesest; oder aber, wenn du ein Opfertier
schlachten lässest und
das Fleisch unter die Armen verteilst — wer weiß, ob dann
Allah nicht ein Einsehen hat
und deinem Jungen Gesundheit schenkt?«
Der Geizhals dachte über diesen Vorschlag nach und erwiderte
schließlich: Dann ist es
wohl besser, wir lesen den Koran, denn der liegt im Haus,
doch weit ist der Weg zur
Herde hinaus — und das Nahe ist doch dem Fernen
vorzuziehen!«
»Nun ja«, sprach da ein beherzter Mann, »es war zu erwarten,
daß er so wähle; denn der
Koran sitzt ihm nur auf der Zunge, das Geld inmitten der
Seele:
Weil es nichts kostet, beugt er zum Gebet den Rücken,
doch seine Börse will er niemals zücken;
wirfst du ein Goldstück in den Schmutz, wird er sich bücken,
verlangst du ein Almosen: schnell sich drücken!«
Anuschirwan und das Salz
Als man einst, so wird erzählt, Nuschirwan dem Gerechten auf
der Jagd ein Stück
Wildbret briet, fehlte es an Salz, und man schickte deshalb
einen Burschen in ein Dorf,
um welches zu holen. Anuschirwan sagte ihm: »Bezahle das
Salz, damit nicht ein Gesetz
daraus entstehe und das Dorf zugrunde gehe.«
Als man ihn fragte, welches Unheil denn aus dieser
Kleinigkeit entstehen könne,
antwortete er: »Die Grundlage der Ungerechtigkeit in der
Welt ist gering gewesen,
aber jeder später Gekommene hat etwas dazugetan, bis sie zu
diesem Übermaß
angewachsen ist; denn:
Ißt einen Apfel von des Bauern Baum der Schah,
sind gleich schon seine Krieger, den Baum zu fällen, da.
Nimmt sich der Sultan mit Gewalt fünf Eier,
brät tausend Hühner sich sein Heer zur Feier...«
Meister und Schüler
Ein Ringer hatte es in seiner Kunst bis zur höchsten
Vollkommenheit gebracht;
er verstand dreihundertundsechzig vortreffliche Kunstgriffe
und konnte jeden Tag einen
anderen anwenden.
Zufällig fühlte er in einem Winkel seines Herzens eine
Neigung zu der Schönheit eines
seiner Schüler; er lehrte ihn dreihundertneunundfünfzig
Kunstgriffe, nur einen einzigen
wollte er ihn nicht lehren, indem er ihn als etwas
Unbedeutendes wegließ.
Der Jüngling brachte es in der Kunst und der Körperkraft zur
höchsten Vollkommenheit,
und niemand war imstande, es mit ihm aufzunehmen, so daß er
endlich in Gegenwart
des Sultans äußerte: »Den Vorzug, welchen mein Meister vor
mir hat, verdankt er
seinem Alter und seinem Unterrichte, sonst stehe ich an
Kraft nicht unter ihm und in der
Kunst komme ich ihm gleich.«
Dem König mißfiel diese ungeziemende Rede; er befahl, sie
sollten miteinander ringen.
Ein geräumiger Platz wurde dazu bestimmt, die Mächtigen des
Reiches und die großen
des Hofes waren als Zuschauer zugegen. Der Jüngling trat
gleich einem trunknen
Elefanten mit einer Heftigkeit auf, daß er einen ehernen
Berg hätte von seiner Stelle
reißen können. Der Meister aber, welcher wußte, daß der
Jüngling ihm an Kraft überlegen
war, faßte ihn mit jenem besonderen Kunstgriff, den er vor
ihm verborgen gehalten hatte
und den der Jüngling nicht abzuwehren verstand; er hob ihn
mit beiden Händen von der
Erde auf, hielt ihn über seinem Kopfe in der Schwebe und
warf ihn dann auf die Erde.
Die Zuschauer erhoben ein Geschrei; der König ließ dem
Meister Geld und Ehrenkleid
geben, dem Jüngling dagegen gab er einen derben Verweis, daß
er vorgeben, er könne
es mit seinem eigenen Meister aufnehmen, das aber nicht
durch die Tat bewährt hatte.
»O Herr«, erwiderte der Jüngling, »der Meister hat mich
nicht durch Kraft und Gewalt
besiegt, sondern eine Kleinigkeit war noch in der Ringkunst
übrig geblieben, die er mir
vorenthalten, und durch diese Kleinigkeit hat er heute
gesiegt.«
Der Meister aber sagte:
»Eben für einen solchen Tag hatte ich jenen Griff aufgespart
— für den Fall,
daß geschehen würde, was ja auch richtig geschehen ist.
Wer wollte mich dafür tadeln? Haben denn nicht die Weisen
gesagt: >Gib nie dem Freund
so viel Macht, daß er als Feind dich besiegt in der
Schlacht<?
Hast du nicht gehört, was jener sagte, der von seinem
Schüler schmachvoll behandelt wurde?
So hör denn:
Entweder gab es Treue nie in dieser Welt,
oder keiner lebt mehr, der sie hält.
Den ich einst treffen lehrte mit dem Pfeile,
schoß ihn auf mich nach einer kurzen Weile...«
Die Lehrer der Höflichkeit
Man fragte den weise Loqman: »Wer hat dich gelehrt, so
höflich zu sein?«
»Die Unhöflichen«, gab er zur Antwort, »denn ich habe mir
stets gemerkt, was mir am
Benehmen der anderen mir gegenüber mißfallen hat; und dann
habe ich mich gehütet,
meinen Mitmenschen dasselbe zuzufügen...«
Kein Wort, und sei es noch so leicht gefallen,
wird echolos im klugen Sinn verhallen.
Doch Weisheit, hundertfach dem Dummkopf vorgelesen,
verläßt wie Scherz sein Ohr, wie nie gewesen.
Wer ist ein Heiliger?
Ein Padeschah sah einer ebenso wichtigen wie schwierigen
Unternehmung entgegen.
Da legte er vor Gott ein Gelübde ab und versprach, daß er
eine große Geldsumme an
Männer von heiligem Lebenswandel verschenken werde, falls
ihm bei seinem Vorhaben
Erfolg beschieden sei. Und sieh da! Das Glück war dem König
hold; und als er nun sein
Ziel erreicht und sein Gemüt sich beruhigt hatte, gedachte
er auch wieder jenes Gelübdes.
Was er damals in der Stunde
der Not und Bedrängnis gelobt hatte, dem wollte
er jetzt im Triumph nicht untreu werden.
So füllte denn unser Schah einen großen Beutel bis oben mit
Silberstücken und übergab
diesen Schatz einem seiner vertrauten Pagen mit der Weisung,
ihn unter die heiligen
Männer in der Stadt zu verteilen. Dieser Page nun war ein
Jüngling, der für seinen hellen
Kopf und gewitzten Sinn bei jedermann bekannt war. Was tat
er, um seinen Auftrag
getreu zu erfüllen? Wohl streunte er den lieben langen Tag
durch alle Gassen und
Winkel; doch als er um die Abendzeit wieder im Königspalast
vor seinem Herrn erschien,
war der randvolle Beutel noch immer in seiner Hand und
schien auch kein bißchen
leichter und leerer geworden...
Der Page küßte ehrfurchtsvoll das ihm anvertraute Gut, legte
es der Majestät zu Füßen
und erklärte: »Wie sehr ich auch in jeder Ecke dieser Stadt,
treppauf und treppab,
gesucht und geforscht habe — heilige Männer sind mir doch
nirgends unter die Augen
gekommen!«
»Was sind das für seltsame Märchen, die du mir da erzählst«,
rief der Schah, »es soll
hier nicht weniger als vierhundert solche Männer geben, so
hat man mir gesagt!«
»O Weltbeherrscher«, erwiderte da der Jüngling schlagfertig,
»das kann doch nicht
wahr sein; denn wer ein heiliger Mann ist, der nimmt kein
Geld an, und wer es also
annimmt, der ist kein heiliger Mann...«
Da mußte der König laut lachen. Er wandte sich seinen
Höflingen zu und sprach:
»Wie lieb und teuer mir selbst auch die Gottesmänner sind,
so übel scheint ihnen dieser
Frechdachs da gesinnt — und zu allem Überfluß ist, was er
sagt, auch noch richtig!«
Wenn dein Gold und deins Silberlinge
ein frommer Gottesmann begehrt,
so suche einen frömmern dir,
der Gott und nicht dein Geld verehrt.
Papagei und Rabe
Ein Papagei wurde mit einem Raben zusammen in den gleichen
Käfig gesperrt.
Er war darüber keineswegs erfreut, sondern beklagte sich
über die Häßlichkeit seines
Gefährten und rief aus: »Zu welch abscheulichem Anblick bin
ich Armer verdammt!
Ach, wäre von dem Kerl ich doch befreit
und er mir wie das Abendland vom Morgenland so weit!
Wer, Ungeheuer, neben dir erwacht,
dem wandelt sich der Morgenglanz in Nacht...«
So zeterte und schalt der Papagei ohne Unterlaß. Doch
seltsam! Auch der Rabe war
mit seinem Schicksal alles andere als zufrieden. Statt die
Gegenwart eines doch so
hübsch farbigen und gelehrt sprechenden Nachbarn als eine
Ehre aufzufassen,
äußerte er im Gegenteil nur Ärger und Verdruß, rief die
Allmacht Allahs an,
klagte Himmel und Weltlauf an und schimpfte so: »O Unstern,
der mir solches Unheil
beschert! O könnte ich doch, wie es meiner würdig wäre, mit
meinesgleichen eine
Gartenmauer entlang schreiten; aber statt dessen muß ich die
Verse anführen:
Zwiefach dem frommen Mann die Haft mißfällt,
wenn man ihn dort zu Lumpenpack gesellt!
Ach, welche Sünde habe ich denn schon begangen, daß man mich
dazu verurteilt,
die Gesellschaft dieses eitlen und einfältigen Gecken zu
ertragen? Dieses bunten
Schwätzers, von dem ich sage:
Ja, würde man das Paradies dir geben,
so wünschte in der Hölle ich zu leben...«
Ich habe diese Fabel erzählt, damit du siehst und begreifst,
daß nur Wesen der gleichen
Art sich liebhaben können. Vergiß nicht, daß derjenige,
dessen Gesellschaft dir in der
Seele zuwider ist, auch die deine verabscheuen wird!
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