I.
Die Schnecke und die Elster
Es ward einmal von einer Schnecken
Ein Gang auf einen Fels getan;
Doch kam es ihr sehr sauer an,
Die schwere Reise zu vollstrecken,
Sie zog sich sacht und schleichend fort,
Und kam erst langsam an den Ort.
Doch sah sie sich zur rechten Seiten
Von einer Elster mitbegleiten,
Die eben diese Straße zog.
Die hüpfte nun stets auf und nieder,
Und lief beständig hin und wieder,
Daß sie fast mehr ging, Als flog.
"Was?" fragt die Schnecke "soll das Rennen?
Siehst du nicht, du verwegnes Tier,
Die Dornen, Stein und Löcher hier,
Die dich in Unglück stürzen können?
Ei! geh doch langsam und gemach,
Und folge mir mit Vorsicht nach."
"Mit Vorsicht?" schrie die Elster drauf,
"Du möchtest besser Faulheit sagen,
Du ewig träge Schleicherin.
Weil ich allhier in meinem Lauf
So hurtig und behende bin,
Scheint dich daher der Neid zu nagen;
Allein ich werde dich nicht hören,
Noch mich an dein Geschwätze kehren."
Hier lief sie wiederum voran,
Und macht wunderbare Sprünge.
Doch als sie einen Satz getan,
Daß sie in einer Steinritze hing,
Brach sie mit gräßlichem Geschrei,
Doch nach Verdienst, den Fuß entzwei.
"Sagt ich es nicht?" rief hier die Schnecke,
"Doch dir geschieht nun eben recht,
Warum war dir, du toller Gecke,
Mein wohlgemeinter Rat zu schlecht.
Bleib nur in deinem Loche liegen,
Nun hoff ich gegen dir zu fliegen."
* * *
Die Übereilung ist nichts nütze,
Und hat schon manches Leid gebracht;
Man tu fein alles mit Bedacht,
Nichts aber in der ersten Hitze.
Der Fabius der Römer Heil,
War dort viel schneller im Verweilen;
Der Hannibal im Gegenteil
Viel langsamer im schnellen Eilen.
Den gülden Wahlspruch merke du,
Den sich Augustus angenommen:
Willst du zu deinem Zwecke kommen;
So nimm dir Weil und Zeit dazu.
II.
Die zwei Väter, welche ihre
jungen Söhne
auf ganz unterschiedliche Art kleiden
Ein reicher Mann hatt' einen Knaben,
Der in das sechste Jahr erst ging,
Doch mußte er einen Samtpelz haben,
Der ihm bis auf die Füße hing,
Auch mußte er hohe Schuhe tragen,
Daneben steckte man den Kopf
In einen Haarbusch, dessen Zopf
Ihm fast die Waden wundgeschlgen;
Ein langes Schwerte hing an der Seite,
Doch nein! er hing mehr an dem Schwert.
Hierüber lachten nun die Leute,
Wie dann die Torheit lachenswert.
Sein Nachbar hatt' in seiner Eh'
Auch einen Sohn von gleichen Jahren,
Der sprach, ich will zwar nichts ersparen,
Doch will ich mich davor bewahren,
Daß er nicht unnatürlich geh:
Er ließ ihn bunt, doch zierlich kleiden,
Wie es sein Leib und Alter wollt,
Doch war es kein Silber oder Gold,
Kein Schwert, kein Samtpelz oder Seiden.
Sein weißes Haar hing auf den Rücken,
So wie es die Natur gerollt,
Worauf kein Puder zu erblicken.
Dies Kind gefiel nun jedermann,
Und wer es sah, wollt es umfassen,
Und schwerlich wieder von sich lassen
Weil jedes Herz es lieb gewann;
Die Kleidung ist ihm angelegt,
Wie es sein Alter mit sich trägt,
Und wie der Wohlstand es gebietet,
Dabei nicht kostbar, und doch zierlich,
Auch nicht zu lang, zu kurz, noch weit.
Gewiß dem Vater bleibt der Preis,
Daß er sein Kind zu kleiden weis;
So riefen alle, die den Knaben
In seinem Putz, gesehen haben.
* * *
Dies lassen sich die Fabelschreiber
Zu ihrer Warnung dienlich sein;
Sie kleiden ja nicht Kinderleiber
Wie große Riesenkörper ein.
Die Fabeln sind nicht Odysseen,
Noch Philocteten und Medeen;
Sonst werden sie mit aller Pracht,
Als die, die Fabel gar nicht leidet,
Doch wie der Vater ausgelacht,
Der seinen Sohn so toll gekleidet.
Vielmehr bemüh sich ihre Kunst,
Daß sie dem andern Vater gleichen;
So werden sie der Leser Gunst,
Wie auch der Fabel Zweck erreichen.
Dies wußte Fontaine meisterlich,
Der seine Kinder so geschmückt,
Wie sich's nach der Natur geschickt.
Wo bleibt la Motte, fragst du mich?
Hier magst du selbst dein Urteil fällen,
Wohin er eigentlich gehört,
Mich hast mein eignes einzustellen
Bescheidenheit und Scham gelehrt.
Wüßte ich Fontaine nachzugehen,
So würd ich nicht begierig sein,
Mich, wie der Andre, zu erhöhen;
Denn meine Flügel sind zu klein.
Was meine Fabelkinder nun
Für Kleider und Geschmeide tragen,
Davon will ich nichts selber sagen,
Der Leser mag den Ausspruch tun.
Das weis ich wohl, daß nicht Perücken
Noch Samt und Stelzen zu erblicken,
Das Kleid ist ihnen meist gerecht;
Allein, dabei muß ich entdecken,
Es sei das Zeug zu ihren Röcken
Bisweilen zu gering und schlecht..
Doch dieses ist leicht zu vergessen,
Wenn sonst das Kleid wohl angemessen;
Darum wird der Leser mir verzeihn,
Und nicht zu streng im Urteil sein.
III.
Der todkranke Habicht
und die leichtgläubigen Tauben
Ein Habicht lag in den letzten Zügen,
Und rief, es geht mir herzlich nah,
Daß ich, die Tauben zu betrügen,
Im Leben stets nach Mitteln sah;
Drum such ich ihnen abzubitten,
Was sie bisher von mir erlitten.
Die Tauben wurden hergebeten;
Es kamen ihrer auch ein Paar.
Doch als sie, sicher vor Gefahr,
Dem Kranken allzu nah getreten,
Ihn, zur Versöhnung, selbst zu küssen,
Da hat er sie noch tot gebissen.
* * *
Lernt klüger sein, ihr albern Tauben,
Und seid ihn Zukunft nicht so blind,
Merkt, daß den Feinden nicht zu glauben,
So lange sie am Leben sind.
IV.
Der Storch und der Frosch
Ein Storch wollt' einen Frosch verschlingen;
"Ach, schone meiner", sagte der,
"Was treibt dich an? Wo rührt es her,
Daß du mich jetzt suchst umzubringen?
Ich tat dir ja nie was zuleid,
Drum denk doch an die Billigkeit."
"Ja," sprach der Storch, "ich muß gestehen,
Du hast mir nichts zuleid getan;
Allein, mich kommt der Hunger an,
Der soll mir nun durch dich vergehen?
Warum verzehrst du denn die Schnecken;
Warum schluckst du die Mücken ein,
Die dir doch nie zuwider sein?"
Hier blieb dem Frosch die Rede stecken,
An diesen Einwurf dacht' er nicht;
Doch konnt' er nichts dagegen sagen.
Drauf schlang ihn, als ein gut' Gericht,
Der Storch in seinen leeren Magen.
*
* *
Dies ist in die Natur gegeben
Und jederzeit der Welt ihr Lauf,
Der eine muß vom andern leben,
Der Größre frißt den Kleinern auf.
Wer nicht die Macht hat, sich zu wehren,
Der lass' sich mit Geduld verzehren.
V.
Die Nachteule und der
Haushahn
Die Eule flog des Nachts umher,
Wie diese scheuen Vögel pflegen.
Ein Haushahn sah dies ungefähr
Und rief: "Mein! Sage mir, weswegen
Du so des Nachts beschäftigt bist,
Daß dir der Schlaf ein Fremdling ist."
"Ich tu' es", sprach sie, "Mäuse, Spinnen
Und andre Würmer zu gewinnen."
"Dies ist ja wohl der Müh' noch wert",
Sprach hier der Hahn, "der Ruh' zu missen;
Fahr wohl mein Freund, behalte dir
Die hochgerühmten Leckerbissen;
Der Schlaf hingegen wird von mir
So wohlfeil wahrlich nicht entbehrt."
*
* *
Wie mancher der Gelehrten sitzt
Die ganze Nacht bis an den Morgen
Und liest und schreibt mit Angst und Sorgen,
Daß er bald friert, bald wieder schwitzt;
Allein, was bringet sein Beginnen
Der Welt für Nutz, und ihm für Frucht,
Als das er Mäuse, Grillen, Spinnen
Mit großer Müh' umsonst gesucht.
VI.
Die Wegsäule und
der Wandersmann
Am Wege stand einst eine Säule,
Und zeigte schon so manches Jahr,
Seitdem sie hingesetzt war,
Den Reisenden die Straße und Meile.
Ein Wandersmann blieb bei ihr stehn,
Und sprach: "Willst du dich nicht bequemen,
Den Weg auch nach der Stadt zu nehmen,
Wir wollen miteinander gehn!"
"Nein," sprach sie, "ich bleib wo ich bin,
Mein Amt ist nur, daß ich die Reise
Den andern nach dem Orte weise;
Ich aber komme selbst nicht hin."
* * *
Wer andern gute Lehren gibt,
Doch sich nicht selbst darinnen übt;
Wer andre zu der Tugend führt,
Und sie doch selbst nicht berührt;
Der gleicht solchen Wegesäulen,
Die andern zwar Bericht erteilen,
Doch sich stets selbst am Weg verweilen.
VII.
Der wilde Apfelbaum
und all zu künstliche Meister
Ein Apfelbaum von wilder Art,
Der auf dem Felde gefunden ward,
Brachte lauter herbe und saure Früchte.
Ein Mann, der ungefähr ihn sah,
Sprach: "Wahrlich! dieser Baum ist da,
Daß ich ein Wunderwerk verrichte;
Ich will in lieblich- süße Mandeln
Die sauren Äpfel bald verwandeln."
Darauf kocht er einen dicken Saft,
Aus vielen fremden Spezereien,
Bestrich die Wurzeln und den Schaft;
Allein die Müh wollt nicht gedeihen,
Die sauren Äpfel blieben stehn,
Und keine Mandel ließ sich sehn.
Zuletzt sprach endlich selbst der Baum:
"O hör doch auf, mich mehr zu plagen,
Und lieg nicht in dem eitlen Traum,
Als könnt' ich jemals Mandeln tragen;
Ich bin zum Apfelbaum gemacht.
Willst du der Ordnung widerstreben,
Die Gott und die Natur gegeben:
So handelst du ganz ohne Bedacht."
* * *
Ein jeder wird von selbst schon wissen,
Was diese Fabel darstellt:
Die nämlich dieser Kunst befließen,
Die viel verspricht, und wenig hält;
Die in Gedanken Wucher treiben,
Und goldene Berge vor sich sehn,
Doch immer arm und dürftig bleiben,
Weil ihre Wünsche nicht geschehn.
Ich will die Kunst nicht ganz verachten,
Weil uns gar viel noch unentdeckt,
Jedoch auch nicht, als leicht, betrachten,
Weil so viel schweres drinnen steckt.
Doch heißen, die mit goldnen Träumen
Auf diese Weise schwanger gehen,
Auch auf den wilden Apfelbäumen
Die süße Mandelfrucht entstehen.
VIII.
Der Nachen, der Schiffer,
der Rhein und der Wind
Es stand ein Nachen an dem Rhein,
Der Schiffer ging hin, was zu kaufen;
"Gut," sprach er, "weil ich jetzt allein,
Will ich selbst in das Wasser laufen;
Ich bin im Überfluß belehrt,
Was eigentlich zur Fahrt gehört;
Der Schiffer darf gewiß nicht denken,
Als wüßte er mich allein zu lenken."
Drauf fuhr er hin. Doch weil der Rhein
Gleich eben damals heftig stürmte,
Und hohe Wellentürme türmte,
Lief er in die Gefahr hinein.
Er wurde hin und her getrieben,
Und zuletzt gar umgekehrt,
Bis daß er endlich ganz versehrt
Noch im Gebüsche hängen blieben.
Der Schiffer kam, und fuhr ihn an:
"Was hast du, Törichter, begangen?
Wer hieß dich dessen unterfangen,
Daß du die schöne Fahrt getan?
Schau nun, wie wohl sie dir bekommen,
Weil du selbst frech sie unternommen."
"Wahrhaftig!" sprach der Nachen drauf,
"Die Schuld ist mir nicht beizumessen,
Ich habe nichts zur Fahrt vergessen,
Und hielt richtig meinen Lauf;
Allein der Rhein mit seinen Wellen
Hat mich in die Not gebracht;
Du kannst ihn selbst zur Rede stellen,
Ich habe mich nun los gemacht."
"Was?" schrie der Rhein, "wie kann ich wehren,
Daß Wind und Wetter sich empören?
Der Wind hat hier die Schuld allein,
Und nicht der falsch beklagte Rhein."
"Durchaus nicht!" rief der Wind dagegen,
"Man tut mir Unrecht und Verdruß,
Es ist an den Sternen bloß gelegen,
Wenn ich so heftig stürmen muß;
Von vielen andern Nebendingen
Jetzt nicht einmal was beizubringen."
* * *
So sehr sind wir in uns verliebt,
Wir sprechen uns von Fehlern frei;
Und haben wir selbst was verübt,
So messen wir es andern bei.
Ja manche sind wohl so verwegen,
Die selbst gemachte Not und Pein
Gott und den Sternen beizulegen,
Damit sie nur nicht schuldig sein.
IX.
Die Wespen und die Bienen
Die Wespen kamen zu den Bienen,
Laßt, baten sie, uns zu euch ein,
Wir wollen euch getreulich dienen,
Und jederzeit zu Willen sein.
Die Bienen wollten sich erst nicht trauen;
Doch endlich sprachen sie: "Wohlan!
So zieht dann ein, wir wollen schauen,
Wie weit man mit euch kommen kann."
Erst ging es gut. Nach wenig Tagen,
Als sich der Wespen Schwarm vermehrt,
Sieh! da war alles umgeschlagen,
Der Bienenstock ward ganz zerstört;
Die armen Bienen mußten weichen;
Und war ja eine, die nicht wich,
So mußte sie durch den Wespenstich,
Trotz ihrem Heldenmut, erbleichen.
* * *
Man soll sich vor den Leuten hüten,
Die immer in Bereitschaft stehn,
Uns Dienst und Wohltat anzubieten,
Sie tun meist äußerlich so schön,
Damit sie desto schärfer wüten,
So bald sie ihren Vorteil sehn.
X.
Die junge Maus und die
Katze
Es lief ein Mäuslein ohne Sorgen,
Weil ihm die Weltlist noch nicht kund.
Die Katze, welche sich verborgen,
Fuhr zu, und biß es grimmig wund.
"Ach!" rief das Mäuslein, "laß mich leben,
Ich bin ja noch zu jung und klein,
Dir einen Braten abzugeben,
Wart, bis ich werde größer sein."
"Ich tät es wahrlich!" sprach die Katze,
"Allein so fällt mir eben bei,
Daß eine Maus, schon in der Tatze,
Stets besser, denn die größte Ratze,
Auf ungewisse Hoffnung sei,
Ich werde dich drum jetzt verzehren,
Sonst möchte die Gelegenheit,
Die sich jetzt mir freiwillig bietet,
So bald nicht wieder rückwärts kehren."
* * *
Nehmt die Gelegenheit in Acht,
So bald sie sich euch dargereicht;
Denn, wo sie ungebraucht verstreicht,
Seid ihr um euren Nutz gebracht.
Die Hoffnung pflegt meist zu blenden;
Greift mehr nach dem, das für euch liegt.
Ein Spatz ist besser in den Händen,
Als eine Schnepfe, die noch fliegt.
XI.
Der Schlaf und die
Hoffnung
als zwei herrliche Geschenke des
Jupiters, gegen die Menschen.
Prometheus hatte nun mit Fleiß
Den Menschen zwar instand gesetzt;
Doch bei der Bildung ihn mit Schweiß
Und Tränen auch zugleich benetzt,
Daher die Menschen sich mit Zähren
Und Schweiß bis diese Stunde nähren.
Dies schien dem neubelebten Ton
Zu schwer und mühsam zu ertragen;
Drum brachte er also seine Klagen
Dem Jupiter vor seinem Thron.
"Was hilft mir's, daß man mich beseelt,
Wofern mich dieses Leben quält?
Nimm also wieder Schweiß und Zähren,
Das schädliche Gewürz davon.
Wo nicht: So stille mein Begehren,
Und mach mich wiederum zu Ton."
"Dies wird wohl eben nicht geschehn,"
Ließ sich hier Jupiter vernehmen;
"Doch will ich für dein Leid und Grämen
Dir eine Linderung ausersehn.
Damit du meine Huld erkennst,
So will ich dir in deinem Leben,
Sieh! diese zwei Gefährten geben.
(Hier ließ sich nun ein weißes Gespenst
Nebst einem braunen Schatten schauen,
In der Gestalt von Mann und Frauen,
Doch lieblich, ohne Furcht und Grauen.)
Und daß du ihre Namen weißt:
So will ich dir Bericht erstatten,
Der Schlaf heißt jener brauner Schatten,
Die Hoffnung dieser weiße Geist.
Dies werte Paar ist nun erschienen,
Daß es dein Leid erträglich macht.
Der süße Schlaf wird dir bei Nacht,
Die Hoffnung dir bei Tage dienen;
Sie werden selten von dir gehen,
Und sich bei allen Unglücksfällen
Dir hilf- und trostreich zugesellen,
Und unermüdlich bei dir stehn.
In Krankheit, Armut, Schmach und Bedenken,
Ja selbst in der Todespein,
Wird, wäre auch einer nicht vorhanden,
Die andere dennoch bei dir sein."
* * *
Mensch! bist du nun mit dem zufrieden,
Was hier der Jupiter beschieden?
Du sagst zwar ja, ich denke, nein.
Gott will dir Schlaf und Hoffnung gönnen,
Doch, fiel es dir wohl jemals ein,
Die Wohltat dankbar zu erkennen?
Der Schlaf soll deine Not begraben,
Du störst ihn selbst durch deine Schuld.
Die Hoffnung soll dich künftig laben,
Du jagst sie fort durch Ungeduld.
O denke doch vielmehr zurück,
Was Gottes Gunst dir hat getan;
Es ist ja unser größtes Glück,
Das man noch schläft und hoffen kann.
XII.
Die zwei
späten Rosen und der Gärtner
Zwei unverhoffte Rosenknöpfe
Erschienen noch im späten Flor.
Der Gärtner sprach: "Ach! seht euch vor,
Ihr seid ein schön und rar Geschöpfe;
Viele Hände stehen schon ausgestreckt,
Euch von dem Stocke wegzurücken,
Ihr habt euch allzusehr entdeckt,
Und jedermann kann euch erblicken;
Ich fürchte leider! es geschehe,
Daß ich euch nimmer wiedersehe."
"Nein!" riefen sie, "laß uns nur bleiben,
Es hat mit uns noch keine Not,
Und den, der uns zu rauben droht,
Soll unser Dorn schon von uns treiben;
Wir wollen uns zur Sicherheit,
Wenn jemand nahe kommt, niederbücken,
So sind wir von Gefahr befreit,
Und niemand sucht uns abzupflücken."
Der Gärtner ging, sie blieben stehn;
Da kam ein alter Greis gegangen,
Doch sie bezeigten kein Verlangen,
Die Purpurköpfe zu erhöhn.
Drauf kam ein lahmer Kriegesmann,
Dann ein paar magre Klosterbrüder;
Sie aber sahen keinen an,
Und bückten sich vor allen nieder.
Zuletzt, die Schatten wuchsen schon,
Kam noch ein Jüngling herspaziert,
Den die Natur so schön geziert,
Wie den Narzissus und Adon.
Nun laß uns, Schwester, einmal schaun,
(Sprach eine Rose zu der andern,)
Was hier noch spät für Leute wandern,
Nunmehr darf man wohl sicher traun.
Drauf hoben sie ihr Haupt empor;
Doch, als sie noch von weiten sahen
Sich diesen Jüngling ihnen nahen;
Da wurden sie, zu ihrem Wunder,
Auf einmal röter, als zuvor;
Kurz, es fiel Feuer in den Zunder.
So sehr sie suchten, ihre Pracht
Vor andern Schauern zu verstecken,
So eifrig sind sie nun bedacht,
Sie schönen Augen zu entdecken;
Ihr heißer Wunsch ist jetzt allein,
Gesehen und geliebt zu sein.
Sie wurden auch gar bald erblickt,
Denn Schönheit bleibt nicht im Schatten,
Und wie sie sich gewünscht hatten,
Von diesem Jüngling abgepflückt.
Sie ließen sich gutwillig brechen,
Und zogen gar die Stacheln ein,
Die liebsten Hände nicht zu stechen.
* * *
Was will die Fabel wohl bedeuten?
Mich dünkt, sie stelle die Gefahr
Liebreizender Gelegenheiten
Bei jungen Frauenzimmern dar.
Sind diese nur einmal vorhanden,
Wird meist vergebens widerstanden.
Wie viele können lange Zeit
So manchem Anfall widerstreben,
Und müssen bei Gelegenheit
Sich unvermutet doch ergeben.
Soferne nur der rechte Freund
In der bequemen Schäferstunde,
Mit zärtlicher Gewalt, erscheint,
So geht die Freiheit bald zugrunde.
Kein Widerstand kann mehr geschehn,
Das süße Gift ist schon empfangen;
Das Auge sieht, und wird gesehn,
Das Herz fängt, und wird gefangen.
XIII.
Der Spiegel und
das Frauenzimmer
Ein Frauenzimmer war voll Flecken,
Und überhaupt nicht wohlgestalt,
Auch sechsunddreißig Jahr schon alt,
Doch suchte sie mit großem Fleiß,
Durch ein erkauftes Rot und Weiß,
Die Mißgestalt zu überdecken.
So oft sie vor den Spiegel trat,
Und sich in seinem Glas besah,
(Das dann sowohl des Abends spat,
Als Morgens und Mittags, geschah,)
Fuhr sie mit zornigen Gebärden
Denselben also grimmig an:
"Was stellst du mich, du grober Tor,
So ungestalt und häßlich vor?
Wart nur, du sollst bald inne werden,
Wie unbesonnen du getan,
Wenn ich mich künftig an dir räche,
Und dich in tausend Scherben breche,
Es liegt ja nur allein an dir,
Daß ich so unannehmlich scheine;
Denn wie ich von mir selber meine,
Komm ich mir nicht so häßlich vor;
Drum ändre künftig diese Sache,
Und denke stets an meine Rache."
"Ach!" sprach der Spiegel, "ach du fehlst!
Daß du die Schuld auf mich geschoben;
Es ist umsonst, daß du so schmähst,
Ich kann nicht schelten oder loben;
Mein stets gerechter Ausspruch fällt,
Wie sich ein Ding mir darstellt;
Ich pflege nie was zu verstecken,
Und zeig an jedem Angesicht
Aufrichtig alle Fehl und Flecken,
Ich mach sie aber selber nicht.
Was ich an jeglichem erblicke,
Das geb ich ihm getreu zurücke.
Wer nur ein Auge hergebracht,
Kann ja nicht zwei von hinnen tragen;
Und wenn die Nase krumm gemacht,
Dem wird sie hier nicht gleich geschlagen.
Ich ändre niemals die Gestalt,
Schön wird nie garstig, jung nie alt."
* * *
Wenn treue Lehrer uns die Flecken
Des sündlichen Gemüts entdecken:
So sei man nicht im Zorn entflammt,
Noch suche sich dafür zu rächen;
Sie tun ihr Straf- und Warnungsamt,
Und müssen so, nach ihrer Pflicht,
Notwendig mit uns ernstlich sprechen;
Sie zeigen uns nur die Gebrechen;
Allein sie machen solche nicht.
XIV.
Zwei junge Löwen
und ihre Mutter
Es hört' ein junges Löwenpaar,
Das ziemlich schon erwachsen war,
Von weiten eine Trommel schlagen,
Da schrieen sie mit Angst und Zagen:
"Was, Mutter, soll dies Lärmen sein?"
"Pfui!" sprach sie, "stellt das Schrecken ein,
Bedenket, daß ich euch getragen,
Und daß ihr Löwenkinder seid,
Nicht Hasen, die aus Furchtsamkeit
Sich für den kleinsten Schall verstecken;
Faßt vielmehr Mut; denn diesen Laut
Macht eines toten Kalbes Haut."
* * *
Ein weiser und gesetzter Mann
Muß sich nicht gleich vor jedem Dräuen,
Gepolter und Gerassel scheuen;
Er wartet, und schaut den Ursprung an:
So wird er öfters überführt,
Daß dieser fürchterliche Klang,
Der sein verzagtes Herz bezwang,
Von toten Kälbern hergerührt.
XV.
Das Schaf und der Wolf
Nachdem es ungefähr sich traf,
Daß hier ein Wolf, und dort ein Schaf
Bei einem Bach zusammen kommen,
Und beide Seiten eingenommen:
So sprach das Schaf, was tu ich hier,
Daß du mit frecher Mordbegier
Mir stets nach meinem Leben trachtest,
Und mich so unbarmherzig schlachtest,
Wenn es mein Unfall mit sich bringt,
Daß dir dein Straßenraub gelingt?
Mitnichten! ließ der Wolf sich hören,
Du irrst dich sehr, mein guter Freund,
Denn, tracht ich gleich, dich zu verzehren;
Ist's doch so böse nicht gemeint.
Aus keinem Hass entstehn die Triebe,
In meiner dir geneigten Brust;
Dein süßes Fleisch erweckt mir Lust,
Ich fress dich nur aus lauter Liebe.
* * *
So macht es mancher falsche Freund,
Er schwätzt von nichts, als lauter Liebe,
Gibt aber dann die schärfsten Hiebe,
Wenn er am allerfrömmsten scheint.
Doch wenn die Bosheit klar erhellet,
Und man ihn drum zur Rede stellet:
Ist er wohl noch so frech zu sagen:
Es ist zwar übel ausgeschlagen:
Doch war es gut von mir gemeint.
XVI.
Der Bär, Fuchs und Luchs
Der Löwe hatt' einst einen Bären,
Der war bei ihm geheimer Rat,
Was er nun sprach, beschloß und tat,
Das mußte man vor Recht erklären.
Die Tiere wollten all ihr Glück
Bei diesen großen Staatsmann machen,
Und lobten ihn und seine Sachen:
Allein der Luchs blieb nur zurück;
Der konnte sich nicht überwinden,
Ihm auch ein Opfer anzuzünden.
Allein, wie ging's? Er ward gedrückt;
Er konnte nie etwas bekommen,
Und alles, was er fürgenommen,
Ward gleich im ersten Keim erstickt;
Der Bär war gegen ihn empört,
Dieweil er ihn nicht auch verehret.
"Gevatter Fuchs, was fang ich an?
(Der Fuchs kam gleich vom Hof gegangen,)
Damit ich meinen Zweck erlangen,
Und auch mein Glück machen kann?"
Sprach hier der Luchs mit Mißvergnügen.
"Gevatter!" rief der, "das ist leicht,
Ihr müßt euch vor dem Bären schmiegen,
Dann habt ihr euren Zweck erreicht."
"Er ist ja dumm, sprach jener wieder."
"Es tut nichts," fuhr der Fuchs hier fort,
"Fallt doch nur vor dem Götzen nieder,
Und gebt dem Narren ein gutes Wort.
Die Worte darf man ja nicht kaufen,
Noch bis nach Rom nach ihnen laufen.
Im übrigen denkt doch dabei,
Daß er stolzer Gecke sei.
Gesetzt, es fehle ihm an Verstand:
So hat er doch, nebst Ehr und Glücke,
Des Königs Herz in seiner Hand,
Und auch die Macht, daß er auch drücke."
"Wohl!" sprach der Luchs, "ihr habt recht,
Ich will mich, so viel möglich, zwingen,
Und auch dem Abgott Opfer bringen,
Ist er gleich hölzern, dumm und schlecht,
Vielleicht wird mir mein Wunsch gelingen."
* * *
Man muß sich in die Leute schicken,
Denn dieses ist der Lauf der Welt;
Man kann sich ja wohl etwas bücken,
Wenn man nur seinen Zweck erhält.
Im übrigen muß man nicht fragen,
Ob der Kanal von Holz und Stein,
Aus Silber oder Gold geschlagen,
Kann man dadurch nur glücklich sein.
XVII.
Das Schwein
mit dem güldnen Halsband
Es hatt' ein Schwein ein güldnes Band,
Das eine Braut verlor, gefunden;
Als es dies nun um den Hals gebunden,
Sah man es doch aus Unverstand
In stinkenden Morast und Pfützen
Sich nach wie vor, mit Kot bespritzen.
* * *
Gelehrte, die der Wissenschaft
Und guten Künste sich befließen;
Jedoch, dieweil sie lasterhaft,
Dabei nicht wohl zu leben wissen,
Und gute Sitten nicht studiert;
Die sind nicht anders, wie ein Schwein,
Das zwar ein goldnes Halsband ziert,
Und doch stets pflegt beschmutzt zu sein.
XVIII.
Der zum reichen
Herrn gewordene
lächerliche Lakai
Im Haag, wo nicht zu Amsterdam,
Dies kann ich eigentlich nicht sagen,
(Allein es wird auch nichts verschlagen,)
Hat, wie ich einst daselbst vernahm,
Sich dieses einmal zugetragen,
Daß ein Lakai viel Geld bekam,
Daß sein Verwandter ihm erworben,
Der in Ostindien gestorben.
Drauf führt' er einen großen Staat,
Ließ sich zum Herrn von Fahrmit machen,
Er handelte viel teure Sachen,
Und sann nur, wie er Geld vertat;
Er fuhr auf prächtigen Karossen,
Mit vielen Dienern stark umschlossen.
Doch, als er nach der Opera
Einst eine Dame führen wollte,
Und nun in den Wagen steigen sollte;
Begab sichs, daß er es versah,
Sich den Lakaien beigesellte,
Und hinten auf den Wagen stellte.
* * *
Das Geld kann unser Glück verbessern,
Hingegen unsre Sitten nicht.
Wer pöbelhaftig abgericht,
Wird seinen Geist doch nie vergrößern.
Wer zu der Niedrigkeit gewöhnt,
Wird sich nie nach der Höhe lenken;
Und würd er königlich gekrönt,
Wurd er doch nie, als König denken.
XIX.
Der Rabe und
dessen verstorbener Herr
Es hatt' ein Mann zu seiner Lust
Sich einen Raben aufgezogen,
Und war ihm sonderlich gewogen,
Weil er gar wohl zu sprechen wusst;
Er gab ihm stets die besten Bissen,
Und hatt' in Tag und Nacht bei sich;
Allein als kurze Zeit verstrich,
Da ward der Mann vom Tod entrissen.
Als nun der Rabe kein Essen mehr
Auf seines Herren Tafel fand,
Da war die Wohltat bald vergessen,
Die man ihm bisher zugewandt;
Ja aus verteufeltem Gemüte
Hackt' er dem toten Herrn vom Haus
Des Nachts einmal die Augen aus;
Dies war der Dank für seine Güte.
* * *
Man soll nicht stets mit offnen Händen
Die Wohltat jedermann verschwenden,
Die wenigsten sind ihrer wert;
Wie viele sind, die man wohl ernährt,
Die, wo nicht Federn von den Raben,
Doch Rabenherz und Schnabel haben.
XX.
Der Tauber und seine Taube
Ein Tauber, der mit seiner Tauben
In keuscher Glut und Treu entbrannt,
Zog von ihr in ein ander Land.
"Will," rief sie, "dich das Schicksal rauben?
Unmöglich kann ich mich ergeben,
So lange ohne dich zu leben."
Er aber sprach: "Gib dich zufrieden,
Laß, was geschehen muß, geschehn;
Wir werden bald uns wiedersehn.
Sind unsre Leiber gleich geschieden,
Wird unsre Seelen doch nichts trennen,
Noch ihre Neigung hemmen können.
Zwar die Entfernung geht sehr sauer
Bei zwei verliebten Herzen ein,
Jedoch so eine kleine Pein
Befördert nur der Liebe Dauer.
Die Sehnsucht wird mehr angefeuert
Und die verglommne Glut erneuert,
Das Liebste, wenn wir es vermissen,
Reizt desto heftiger zum küssen;
Drum laß uns jetzt vonander ziehn,
Daß einst die Herzen stärker glühn."
*
* *
Wie wir aus dieser Fabel lernen,
Steckt selbst was Gutes im Entfernen.
Das Schönste, was man täglich sieht,
Bewegt viel minder ein Gemüt,
Als wenn das Schicksal es verhindert,
Daß man erlangt, was man begehrt;
Kurz, die Entfernung mehrt den Wert,
Den oft die Gegenwart vermindert.
XXI.
Die Morgenröte und die
Sonne
Als sich bei frühen Morgenstunden
Das Morgenrot am Himmel wies,
Und einen schönen Tag verhieß.
So hatte sie nicht lang hernach
Das Sonnenlicht selbst eingefunden,
Das also zu derselben sprach:
"Nun kannst du, schöne Freundin, weichen
Laß deine Rosen jetzt verblühn,
Und deinen Purpurmund erbleichen,
Ich muß allein am Himmel glühn."
Hierauf ließ sich Aurora hören:
"Ich weiß, daß deiner Pracht und Zier
Des Vorgangs Recht allein gebührt;
Drum weich ich gern, jedoch mit Ehren."
* * *
Ein weiser und gescheiter Mann
Wird allen Rang und Vorzug gönnen,
Die es mit Recht behaupten können,
Und ist gern andern untertan.
Der Schluß ist selten recht und richtig,
Ist er gleich mehr, als zu gemein,
Der geht mir vor, drum muß er tüchtig,
Und ich hingegen schlechter sein.
Oder:
Regiert die Klugheit und Verstand:
Wirst du den eitlen Rangstreit hassen,
Und dem die Oberstelle lassen,
Dem Gott und Glück sie zugewandt.
Man muß zur Ehr auf Stufen wandern;
Kannst du nicht bis zur ersten gehen:
So kannst du doch auf der andern,
Ja auf der dritten, rühmlich stehn.
XXII.
Der alte und der junge
Stier
Ein junger Stier sah einen alten,
Mit Kranz und Bändern prächtig gehen,
Wobei mit lärmenden Getön
Posaunen und Schalmeien schallten:
"Ei!" rief er, "wahrlich! das läßt schön,
Könnt ich auch solchen Schmuck erhalten."
Er folgte dem Getümmel nach,
Doch als er sah das Beil im Nacken,
Und ihn darauf in Stücke hacken,
Daß er der Götter Opfer wäre,
Erschrak er, seufzte laut, und sprach:
"Behüt mich Gott vor dieser Ehre,
Die uns zu unsern Fall erhöht,
Damit man blutig untergeht,
Und die uns nur drum schmückt und ziert,
Damit man uns zur Schlachtbank führt."
XXIII.
Die zwei Wespen
Es war ein Glas mit süßem Wein
Auf einer Tafel stehen geblieben;
Gleich fanden sich zwei Wespen ein,
Die der Geruch herbei getrieben.
Die eine, welche mäßig war,
Saß äußerst auf des Glases Rande,
Und trank sich satt, doch mit Verstande;
Darum kam sie auch nicht in Gefahr.
Allein die andere, die nicht witzig,
Und nicht vorlieb mit wenig nahm,
Flog selbst ins Glas, und trank zu hitzig,
Bis daß sie voll ums Leben kam.
* * *
Man muß die Wollust mäßig treiben,
Und gleichsam nur am Rande bleiben,
Dann labet ihr Süßigkeit
Uns eine desto längre Zeit;
Die aber unersättlich trinken,
Die müssen plötzlich untersinken.
Ein allzu großer Überfluß
Verkürzt meistens den Genuß.
XXIV.
Der Tag und die Nacht
Der Tag sprach einstens zu der Nacht:
"Weißt du, daß mir der Vorzug bleibet?
Ich mache, daß der Mensch erwacht
Und nützliche Geschäfte treibet;
Du aber bringst ihn wie ums Leben
Und gräbst ihn in die Federn ein;
Was kann er denn für Nutzen geben,
Wie kann er andern dienlich sein?"
"Du irrst dich! Wenn ich nicht wäre".
Sprach hier mit finstrer Stirn die Nacht:
"So würdest du um Nutz und Ehre
Und selbst die Welt ums Glück gebracht.
Denn das die Menschen Tagewerke
Und nützliche Geschäfte tun,
Dazu erlangen sie die Stärke,
Wenn sie des Nachts erst sanfte ruhn."
*
* *
Unnötig ist die Zweifelfrage,
Denn Gott hat alles gut gemacht;
Es hilft und dient die Nacht dem Tage,
Der Tag wiederum der Nacht;
Ein jegliches Geschöpf erschiene,
Daß er den Schöpfer preis', und diene.
XXV.
Der alte Hirsch
mit seiner Klage
gegen die Tiere im Walde
Es ging ein alter Hirsch spazieren,
Der nun schon an die hundert Jahre
Ein Bürger in den Wäldern war,
Der sprach also zu andern Tieren:
"Ach! wie so schlimm ist jetzt die Welt;
Vor diesem ward uns armen Hirschen
Mit Tüchern, Netzen, Hund und Pirschen,
Nicht so wie jetzt nachgestellt,
Wir hatten dazumal mehr Friede,
Und kamen nicht so oft in Not;
Drum bin ich nun des Lebens müde,
Und wünsche mir mit Recht den Tod."
* * *
So sehr allhier der Hirsch gefehlt,
Der auf die neuen Zeiten schmäht,
Und nur allein die alten preist;
So fehlen wir auch allermeist,
Wenn wir nur gutes von alten Tagen,
Und von den neuen böses sagen.
Es ist vor dem so schlimm gewesen,
Als es jetzt kaum kann möglich sein,
Wie wir auf griechisch und Latein
In vielen alten Schriften lesen.
Kein Laster ist heut auszufinden,
Und keine Gattung böser Lust,
Das nicht die Alten längst gewußt;
So werden neu die alten Sünden.
So lange Menschen, Menschen bleiben,
Wird man zu all- und jeder Zeit,
In nimmermüdem Wechselstreit
So Tugenden, als Laster, treiben.
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