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zur Begriffserklärung
 

Bei Lessing Gotthold Ephraim fand ich eine ausführliche Abhandlung über die Fabel.

 
Von dem Wesen der Fabel

Jede Erdichtung, womit der Poet eine gewisse Absicht verbindet, heißt eine Fabel.
So heißt die Erdichtung, welche er durch die Epopee, = episches Dichtwerk
durch das Drama herrschen lässt, die Fabeln seiner Epopee, die Fabel seines Drama.

Von diesen Fabeln ist hier die Rede nicht. Mein Gegenstand ist die sogenannte aesopische Fabel. Auch diese ist eine Erdichtung, eine Erdichtung, die auf einen gewissen Zweck abzielet.
Man erlaube mir, gleich anfangs einen Sprung in die Mitte meiner Materie zu tun, um eine Anmerkung daraus herzuholen, auf die sich eine gewisse Einteilung der aesopischen Fabel gründet, deren ich in der Folge zu oft gedenken werde und die mir so bekannt nicht scheinet, dass ich sie, auf gut Glück, bei meinen Lesern voraussetzen dürfte.

Aesopus machte die meisten seiner Fabeln bei wirklichen Vorfällen. Seine Nachfolger haben sich dergleichen Vorfälle meistens erdichtet oder auch wohl an ganz und gar keinen Vorfall, sondern bloß an diese oder jene allgemeine Wahrheit, bei Verfertigung der ihrigen gedacht. Diese begnügten sich folglich, die allgemeine Wahrheit, durch die erdichtete Geschichte ihrer Fabel, erläutert zu haben; wenn (während) jener noch über dieses die Ähnlichkeit seiner erdichteten Geschichte mit dem gegenwärtigen wirklichen Vorfalle fasslich machen und zeigen musste, dass aus beiden, sowohl aus der erdichteten Geschichte als dem wirklichen Vorfalle, sich eben dieselbe Wahrheit bereits ergebe  oder gewiss ergeben werde.
Und hieraus entspringt die Einteilung in einfache und zusammengesetzte Fabeln.

Einfach ist die Fabel, wenn ich aus der erdichteten Begebenheit derselben bloß irgendeine allgemeine Wahrheit folgern lasse.-
»Man machte der Löwin den Vorwurf, dass sie nur ein Junges zur Welt brächte. Ja, sprach sie, nur eines, aber einen Löwen.« Aesop: Die Löwin und die Füchsin
Die Wahrheit, welche in dieser Fabel liegt, leuchtet sogleich in die Augen; und die Fabel ist einfach, wenn ich es bei dem Ausdrucke dieses allgemeinen Satzes bewenden lasse.

Zusammengesetzt hingegen ist die Fabel, wenn die Wahrheit, die sie uns anschauend zu erkennen gibt, auf einen wirklich geschehenen oder doch als wirklich geschehen angenommenen Fall weiter angenommen wird.-

»Ich mache, sprach ein höhnischer Reimer zu dem Dichter, in einem Jahre sieben Trauerspiele, aber du? In sieben Jaren eines! Recht, nur eines! versetzte der Dichter, aber eine Athalie!« (Letztes Drama Jean Baptiste Racines 1693-99, - 1691 erschienen.–

Man machte dieses zur Anwendung der vorigen Fabel, und die Fabel wird zusammengesetzt. Denn sie besteht nunmehr gleichsam aus zwei Fabeln, aus zwei einzelnen Fällen, in welchen beiden ich die Wahrheit ebendesselben Lehrsatzes bestätiget finde.

Diese Einteilung aber – kaum brauche ich es zu erinnern – beruhet nicht auf einer wesentlichen Verschiedenheit der Fabeln selbst, sondern bloß auf der verschiedenen Bearbeitung derselben. Und aus dem Exempel schon hat man es ersehen, dass eben dieselbe Fabel bald einfach, bald zusammengesetzt sein kann.
Bei Phaedrus ist die Fabel von dem kreißenden Berge eine einfache Fabel. Fabel IV 23

Hoc scriptum est tibi,
Qui magna cum minaris, extricas nihil.
»Das ist gesagt für dich, / Der Großes drohet, aber Nichts erfüllt.«

Ein jeder, ohne Unterschied, der große und fürchterliche Anstalten einer Nichtswürdigkeit wegen macht, der sehr weit ausholt, um einen sehr kleinen Sprung zu tun, jeder Prahler, jeder vielversprechende Tor, von allen möglichen Arten, siehet hier sein Bild!

Bei unserm Hagedorn* aber wird ebendieselbe Fabel zu einer zusammengesetzten Fabel, indem er einen gebärenden schlechten Poeten zu dem besondern Gegenbilde des kreißenden Berges macht.

*Friedrich von Hagedorn (1708-54), dt. Dichter; Versuch in poetischen Fabeln und Erzählungen (1738)
nach dem Muster La Fontaines.


Ihr Götter rettet! Menschen, flieht!
Ein schwangrer Berg beginnt zu kreißen
Und wird jetzt, eh’ man sich’s versieht,
Mit Sand und Schollen um sich schmeißen. etc.
- - - - - - -
Suffenus schwitzt und lärmt und schäumt:
Nichts kann den hohen Eifer zähmen;
Er strampft, er knirscht; warum? er reimt
Und will jetzt den Homer beschämen. etc.
- - - - - - -
Allein gebt acht, was kommt heraus?
Hier ein Sonett, dort eine Maus.

Diese Einteilung also, von welcher die Lehrbücher der Dichtkunst ein tiefes Stillschweigen beobachten, ohngeachtet ihres mannigfaltigen Nutzens in der richtigern Bestimmung verschiedener Regeln: diese Einteilung, sage ich, vorausgesetzt, will ich mich auf den Weg machen.
Es ist kein unbetretener Weg. Ich sehe eine Menge Fußstapfen vor mir, die ich zum Teil untersuchen muss, wenn ich überall sichere Tritte zu tun gedenke. Und in dieser Absicht will ich sogleich die wichtigsten Erklärungen prüfen, welche meine Vorgänger von der Fabel gegeben haben.


 
Quelle: ©1992 Reclam/ G.E.Lessing Abhandlungen über die Fabel.