Ein gans die sprach
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Eine Gans sagte
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Ein gans die sprach, si were ein meister aller kunst.
si sorget kleine vor den swêren rüben dunst,
wie das ir muter drin gesoten were.
»bi minem adel ich nimmer bi den gensen ge,
in einem vogelhuse wil ich singen me.«
der ackerman erhorte dise mere.
er satzt sie ho in einen bur.
sie sprach, si wold die zisel gar verdringen,
ir kunst wer feste sam ein mur.
ꞋgigaꞋ sie schrei und kunde nimmer singen.
da nu der here das ersach,
das er was an der gense gar betrogen,
das tet im leid und ungemach;
er hieng sie zu der wende bi dem kragen.
nicht underslach dich meisterhaft, der du nicht macht
volbrengen,
und hüte dich vor gense tat, das ist min rat.
der keiser ist unschuldig dran, wirstu in schanden hengen.
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Eine Gans sagte, sie wäre ein Meister in allen Künsten.
Der Geruch der sauren Rübensuppe machte ihr keine Angst,
obwohl ihre Mutter darin gesotten worden war.
»Angesichts meines Adels wird es mir nicht wie den (anderen)
Gänsen ergehen,
ich beabsichtige, in einem Vogelkäfig lange zu singen.«
Der Bauer hörte diese Rede.
Er setzte sie hoch in einen Käfig.
Sie sagte, daß sie die Zeisige ausstechen wolle,
denn ihre (eigene)Kunst sei festgefügt wie eine Mauer.
Sie schrie aber nur ꞋgagaꞋ und konnte überhaupt nicht singen.
Als ihr Herr merkte,
daß er mit der Gans so gar keinen Erfolg hatte,
ärgerte er sich darüber.
Er hängte sie mit dem Kragen an der Wand auf.
Gib dich nicht als Meister aus, wenn du dazu nicht imstande
bist,
und hüte dich, so zu handeln wie die Gans: das rate ich dir!
Denn der Kaiser hat keine Schuld, wenn man dich dann in Schanden
aufhängt.
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Ein frouwe sprach
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Eine Dame sagte
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1.
Ein frouwe sprach: »min falk ist mir entflogen
so wit in fremde lant.
des ich fürcht, den ich lange han gezogen,
den feßt ein fremde hant.
ich han der truwe fessel im gar zu lang gelan.
des brut die afterruwe sam ein nessel min herze sunder wan.
2.
Ich hoffe doch, das er mir kumet wider,
wie er nu sweimet wit.
wann er verlüst die schell und das gefider
bricht und die winterzit
im drouwet und die beiße vergat und rist der hag,
so swinget er dann wider in sinen weiße, wann er nicht fürbaß
mag.
3.
Ach, hett ich einen blafuß für den falken:
ab er nicht wer so risch,
doch blib er stan uf mines herzen balken.
was hilfet mich der fisch,
der in des meres grüfte wart alles angels fri?
mich stüret klein der vogel in der lüfte, wie edel das er si.«
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1.
Eine Dame sagte: »Mein Falke ist mir weit
in fremde Länder entflogen.
Ich fürchte, daß ihn, den ich so lange gezähmt habe,
jetzt eine fremde Hand fassen wird.
Ich habe ihm in der Fessel seiner Treue zu viel Spielraum
gegeben.
Nachträglich brennt mir der Ärger darüber ganz gewiß wie eine
Nessel das Herz.
2.
Aber ich hoffe trotzdem, daß er zurückkommt,
wie weit er jetzt auch herumfliegt.
Wenn er sein Geschell verliert, wenn sein Gefieder
bricht, der Winter ihn
bedroht, die Jagdzeit vorüber ist und der Wald die Blätter
verliert,
dann fliegt er nach Hause zurück, denn er hat keine andere
Möglichkeit mehr.
3.
Ach, hätte ich einen Blaufuß anstelle des Falken:
Er wäre zwar nicht so schnell,
doch bliebe er auf dem Balken meines Herzens sitzen.
Was nützt mir der Fisch,
der in der Tiefe des Meeres nie von einer Angel erreicht wird?
In der Luft hilft mir der Vogel nichts, so edel er auch sein
mag.«
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Durch minn gein Kriechen quam
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Wegen der Liebe kam Paris nach Griechenland
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1.
Durch minn gein Kriechen quam
Paris: Helen, die schon, er nam,
künig Menelaus wib. die scham
den keiser Agamennon treib,
das er der tochter nach
mit tusent schiffen ilte nach.
im was gein Troi in grimme gach:
das ganze künigrich er zerreib.
künig Priamus, Paris, Hector erslagen,
wib und kint tot in den gassen lagen.
Troie wart, hör ich sagen,
gebrochen und verscharet gar.
2.
Tarquinius genant,
des kaisers sun, zu Rome fant
eine Lucreciam. zuhant
er übte mit ir minne swach.
die edle dem senat
kleite, der darzu nicht entat.
ir unvermeiltes herz ir rat
gab, das sie sich selben erstach.
der sich die Romer all betrubten sere:
vertriben wart Tarquinius der here.
des keisertumes ere
vergieng davon dri hundert jar.
3.
Her Salomon wart bloß
von minne witze und versloß
den tempel; gotes er verkos
und bette die apgöte an;
Sampson geblendet wart.
die minn hat der sirenen art:
dem marner sie so süße zart,
das er entsleft und zücket dann
das schif zu grund. sus manchen minn ertrenket,
dem sie mit seime todes gall inschenket.
tat swacher minne krenket
man unde wib in eren schar.
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1.
Wegen der Liebe kam Paris nach Griechenland:
Helena, die schöne, die Frau des
Königs Menelaus, entführte er. Die Schande
veranlaßte den Kaiser Agamemnon,
daß er mit tausend Schiffen
der Tochter nacheilte.
Sein Zorn trieb ihn nach Troja:
er vernichtete das ganze Königreich.
König Priamus, Paris und Hektor wurden erschlagen,
Frauen und Kinder lagen tot in den Straßen.
Troja, so hörte ich sagen,
wurde erstürmt und zerstört.
2.
(Ein Herr), Tarquinius genannt,
der Sohn des Kaisers, traf in Rom
Lucretia alleine an. Ohne Zögern
trieb er mit ihr sündhafte Liebe.
Die Edle erhob vor dem Senat
Anklage, doch dieser unternahm nichts.
Ihr reines Herz gab ihr
den Rat, sich selbst zu erdolchen.
Die Römer beklagten das alle sehr:
Tarquinius; der Adlige, wurde vertrieben.
Das Ansehen des Kaisertums
lag deswegen für dreihundert Jahre darnieder.
3.
Herr Salomon verlor aus Liebe
den Verstand und schloß
den Tempel; er vergaß Gott und
betete die Abgötter an;
Samson wurde geblendet.
Die Liebe hat die Art der Sirenen:
Sie schmeichelt dem Seemann so süß,
daß er einschläft, und dann zieht sie
das Schiff auf den Grund. So ertränkt die Liebe viele,
denen sie mit ihrem Honigseim tödliche Galle einschenkt.
Niedere Liebe veranlaßt Männer und Frauen, Dinge zu tun,
durch die sie viel Ehre verlieren.
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Quelle:
©Reclam 1993/Deutsche Gedichte des Mittelalters/übersetzt und
erläutert ©Ulrich Müller&Gerlinde Weiss.
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